155 - Kriminalfall Kaprun
sind. Am späten Vormittag lässt sich bereits erahnen, dass es abseits der zwölf Geflüchteten keine Überlebenden gibt. Doch es vergehen quälende Stunden, bis Gewissheit herrscht.
Am späten Nachmittag treffen auch die Stieldorfs in Kaprun ein. Sie kommen am Hotel vorbei, in dem ihr Sohn mit seinen Freunden etwas außerhalb des Ortszentrums geschlafen hat und fahren durch den Schaufelbergtunnel direkt zur Gletscherbahn. Noch bevor sich der Blick auf das Kitzsteinhorn auftut, treffen sie auf die erste Straßensperre. Dahinter ist die Landesstraße zu einem einzigen Parkplatz geworden: Einsatzfahrzeuge, Privatwagen und Busse der Fernsehsender mit ausgeklappter Satellitenschüssel auf dem Dach reihen sich aneinander.
»Wir vermissen unseren Sohn«, sagt Johannes Stieldorf knapp zum Gendarmen, der sie angehalten hat.
»Fahren Sie bitte links über die Brücke zu der Jugendherberge da drüben.« Er zeigt auf die andere Bachseite, wo ein schmuckloses gelbes Haus steht. »Ein Kollege erwartet Sie und begleitet Sie in die Jugendherberge.«
Wortlos fahren die Stieldorfs weiter Richtung Jugendherberge, während am Fußballplatz daneben ein Militärhubschrauber abhebt, sich Richtung Kapruner Tal ausrichtet und schnell immer kleiner wird, bis er am Horizont verschwindet.
Wer tot im Tunnel liegt, können die Ermittler bis zu diesem Zeitpunkt lediglich im Ausschlussverfahren feststellen. Auf demGletscher werden die Namen jener Menschen aufgenommen, die vor der Unglücksfahrt oder über die überirdische Gondelbahn nach oben gelangt sind. An Checkpoints am Ausgang des Tales wird jeder namentlich registriert. All jene Vermissten, die im Laufe des Tages nicht irgendwo auftauchen, werden in Listen aufgeführt. Die Stieldorfs sind dem Nervenzusammenbruch nahe, als sie in der Jugendherberge auf Dutzende Leidensgenossen treffen. Ein Raum voller verzweifelter Menschen, die ins Leere starren oder ihren Kopf in den Händen vergraben. Dazwischen Sanitäter und Psychologen, die versuchen, den Kontakt zu den Menschen herzustellen. Auf einem Tisch köcheln Würstchen vor sich hin, daneben stehen Wegwerfgeschirr und Schwarzbrot in Scheiben.
Der Blick der Stieldorfs fällt schnell auf jene Listen auf einer Holzvertäfelung, die dort mit Klebeband fixiert sind. Sie überfliegen die alphabetische Auflistung der Namen, und was sie sehen, trifft sie ins Mark. Alle fünf jungen Männer sind auf der Liste.
»Johannes«, sagt Karin Stieldorf, »wenn sie in dem Zug waren und nach oben geflüchtet sind, sind sie tot.«
Ihr Mann weiß, dass seine Frau Recht hat, doch er antwortet: »Komm Karin, der Matti ist so fit. Vielleicht sind die Buben gerade zu Fuß auf dem Weg ins Tal und tauchen bald auf. Wir dürfen die Hoffnung nicht aufgeben.«
Die Stieldorfs treffen auf die Eltern der Freunde von Matthäus. Die Menschen sprechen sich gegenseitig Mut zu. Doch so richtig will hier niemand mehr an ein Wunder glauben. Das aber bräuchte es jetzt. In diesen bangen Stunden des Wartens und Hoffens bringt niemand der Einsatzkräfte den Mut auf, den Angehörigen Gewissheit zu verschaffen. Der Brand ist schon Stunden her.
»Sagen Sie schon, was los ist«, fordern die Angehörigen von den Hilfskräften, die verdächtigt werden, mehr zu wissen, als sie zugeben. »Sie wissen doch, wie es in dem Tunnel ausschaut!«
Erst am Abend, zehn Stunden nach Ausbruch der Katastrophe, teilen die Hilfskräfte den Dutzenden Angehörigen in der Jugendherberge mit, dass ihr geliebtes Kind, ihr Vater oder ihre Ehefrau nach allen Regeln der Wahrscheinlichkeit tot in diesem Tunnel liegt. Sie bräuchten jetzt die Zahn- oder Haarbürste der Vermissten, um mittels DNA -Vergleich sichergehen zu können. Für die vielen Menschen in dem Raum bricht in diesem Moment endgültig ihre Welt zusammen.
Kapitel 12
Gegen 16 Uhr klingelt im Büro von Eva Danninger-Soriat das Telefon. Sie nimmt ab und hört die Stimme von Polizeimajor Franz Lang. Die beiden kennen sich und Lang fragt, ob sie Journaldienst habe. Als die Staatsanwältin dies bejaht, berichtet er kurz über seinen derzeitigen Wissensstand und fordert sie und einen Untersuchungsrichter an. »Ich schicke Ihnen einen Hubschrauber«, sagt er. Vorschriftsmäßig meldet sie den Fall telefonisch ihren Vorgesetzten in der Oberstaatsanwaltschaft Linz.
Danach ruft sie ihren Mann an, um ihm mitzuteilen, dass sie nach Kaprun fliegt und es ungewiss ist, wie lange sie bleiben wird. Er hat zuerst Radio gehört, sitzt nun vor dem Fernseher
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