155 - Kriminalfall Kaprun
Lifte wieder in Bewegung setzten, hielten die Skisportler der Gletscherregion dieTreue. Allerdings war die Kapazität des Skigebietes reduziert, weil nur mehr eine überirdische Gondelbahn in Betrieb ist. Gleichzeitig liefen die Planungen für eine neue, oberirdische Erschließung des Gletschers, ein Projekt, das bis zum Start der nächsten Saison in der ersten Ausbaustufe fertiggestellt sein soll.
Auf dem Kitzsteinhorn ist der Skibetrieb in vollem Gange, als am 11. Mai 2001 rund ein Dutzend Angehöriger in Kaprun eintrifft. Es ist der erste Halbjahrestag der Katastrophe. Die Angehörigen aus Wien und Vilseck wollen in Kaprun ein sichtbares Zeichen der Trauer und der Erinnerung setzen. Die Ereignisse der vergangenen Monate haben das Verhältnis zwischen den Gletscherbahnen Kaprun und den Angehörigen mehr und mehr zerrüttet.
Bereits im Dezember sorgte ein Kondolenzschreiben der Gletscherbahnen für Betroffenheit und Ärger unter den Hinterbliebenen. In dem Brief sollte den Angehörigen eigentlich das Mitgefühl ausgesprochen werden, doch zierte das Schreiben der offizielle Briefkopf der Kapruner Gletscherbahn mit dem Werbespruch: »3000 Meter über den Dingen stehen.«
Die Hinterbliebenen wollen sich nicht damit abfinden, dass tragisch schicksalhafte Ereignisse den Tod von 155 Menschen gefordert haben sollen. Sie fordern Schuldeingeständnisse oder zumindest die Übernahme von Verantwortung. Der technische Direktor und der Betriebsleiter der Gletscherbahn sind damit in einer schwierigen Situation. Es besteht kein Zweifel daran, dass jeder von ihnen und auch alle anderen Mitarbeiter des Unternehmens das Unglück mit aller Kraft verhindert hätten, wenn sie sich der Gefahr bewusst gewesen wären, und dass niemand von ihnen wissentlich gehandelt und damit Menschenleben riskiert hat. Auch sie sind geschockt und betroffen wegen des Unglücks und des unstillbaren Leids, das es verursacht hat.
Doch der kollektive Schock nach einem Ereignis wie diesem fordert Schuldige, und da stehen die Gletscherbahnmanager, in deren Verantwortung die Bahn betrieben wurde, aus Sicht der Hinterbliebenenschon vor einer detaillierten Klärung der Brandursache automatisch in der ersten Reihe. Die Manager der Gletscherbahn weisen die Schuld von sich, was ihnen aber nicht gegen Vorverurteilungen hilft. Sie verweisen wiederum auf die Firma Swoboda, die mit den Wagenaufbauten beauftragt wurde und mit denen sie via Arbeitnehmerüberlassung beim Zugbau kooperiert haben. Diese Firma hätte den Einbau des Heizlüfters zu verantworten, sagen die Mitarbeiter der Gletscherbahnen.
Damit geraten die Mitarbeiter der Firma Swoboda in die gleiche Situation. Auch sie würden wohl alles geben, um das Geschehene rückgängig zu machen, und auch sie sehen sich als die Falschen für die Rolle der Schuldigen. Swoboda weist auf die nachträgliche Montage der Kunststoffmessleitungen an der Rückwand des Heizkörpers durch die Firma Rexroth hin, für die wieder das Gleiche gilt. Und alle Beschuldigten berufen sich auf die Wagenabnahme durch Beamte des Verkehrsministeriums und Mitarbeiter des TÜV . Sie hätten den Einbau des Haushaltsheizlüfters, die nachträglich installierten Lärchenholzbretter und die leicht brennbaren Materialien genehmigt beziehungsweise nicht bemängelt.
Doch auch sie können sich unmöglich mit einer Schuld dieses Ausmaßes identifizieren. Wenn sie vorher gewusst hätten, was hinterher geschieht, hätten sie wie alle anderen anders gehandelt. Es ist eine Situation, in der niemand Verantwortung, in welcher Form auch immer, übernehmen könnte, ohne ein unverhältnismäßiges Risiko einzugehen. Würde einer der für den Bau oder den Betrieb der Bahn Verantwortlichen auch nur andeuten, dass er aus nachträglicher Sicht etwas hätte besser machen können, müsste er befürchten, dass er allein in den Fokus der internationalen Presse und der Hinterbliebenen gerät und seine Firma, seine Organisation oder sein Ministerium auf einmal alleine die Konsequenzen der Katastrophe zu tragen hätte.
Doch mittlerweile ist bekannt, dass die im Zug verbauten Stoffe einen wahren Giftcocktail produziert haben. Stickstoffverbindungenim glasfaserverstärkten Kunststoff sowie im Acrylglas setzen beim Verbrennen Cyanverbindungen wie Blausäure und Zyclon B frei. Die Kabelummantelungen aus PVC verbrennen zu Phosgen, die Gummiböden zu Senfgas und das Styropor zu Styrolruß.
Die Angehörigen aus Wien und Vilseck treffen sich gleich neben der Jugendherberge,
Weitere Kostenlose Bücher