1550 - Die Frau aus der Knochengrube
über die Bühne gegangen. Die Lichtglocke der Metropole war schon zu sehen. Im Norden zeichneten sich in der klaren Luft die ersten Vororte ab, zu erkennen an den Hochhäusern, die auch dort errichtet worden waren und jetzt von vielen Menschen als Bausünden kritisiert wurden.
Der Verkehr nahm ebenfalls zu, und über uns veränderte der Himmel erneut sein Aussehen. Er dunkelte ein. Schatten trieben von Osten heran. Es wurde Zeit. Wir wollten unser Ziel unbedingt noch vor Einbruch der Dunkelheit erreichen. Als ich Suko darauf ansprach, nickte er.
»Klar, das ziehen wir durch.«
»Danke. Die Schattenfrau wird es dir vergelten.«
»Na, das hoffe ich doch.«
Ich drehte mich um, sodass ich Vanessa anschauen konnte. Sie begegnete meinem Blick, sagte aber nichts, sondern senkte die Augendeckel.
»Was ist los, Vanessa?«
Sie gab die Antwort flüsternd. »Ich habe Angst.«
»Ja, das ist ganz natürlich.«
Ich wollte nicht den Helden spielen und ihr sagen, dass sie keine Angst zu haben brauchte. Es war ganz normal, dass sie so reagierte.
Möglicherweise war ihr inzwischen auch klar geworden, auf was sie sich eingelassen hatte.
Ich versuchte sie trotzdem durch mein Lächeln aufzuheitern. Sie sah es nicht, weil sie weiterhin den Blick gesenkt hielt.
Inzwischen hatten wir die Stadt erreicht und rollten durch die weit gestreuten südlichen Vororte. Auch in mir wuchs die Spannung. Ich hoffte nur, dass wir nicht noch durch einen Stau aufgehalten wurden.
Es gab keinen Stau, die Straßen waren relativ frei, und so konnten wir aufatmen. Vor allen Dingen deshalb, weil wir die A205 erreicht hatten.
Weiter im Westen wurde der neue Zubringer gebaut. Wir mussten zuvor ab.
Es dauerte nicht mal eine Minute, bis wir ihn erreicht hatten. Die Reifen meldeten sich schon mit einem leisen Quietschen, weil Suko etwas zu schnell gefahren war.
Mittlerweile war die Dämmerung vergangen. Die Dunkelheit eines Winterabends lag über dem Land. Die bleichen Glotzaugen der Scheinwerfer waren weniger geworden. Die Straße, die unterhalb der Auffahrten vorbeiführte, war mit Lehm beschmiert. Hinterlassenschaften mächtiger Lastwagenreifen.
Vor uns blinkten bereits die gelben Lichter der Absperrung. Die ersten Warnschilder tauchten auf. Sie wiesen darauf hin, dass eine Weiterfahrt unmöglich war.
Suko schaltete nicht das Fernlicht ein. Er wollte keine Aufmerksamkeit erregen, und so rollten wir langsam auf die Baubude zu, wo der beste Platz war, um zu parken.
Wir stoppten.
»Das war’s«, sagte Suko.
Ich schnallte mich los und warf dabei einen Blick nach hinten, wo Vanessa saß. Auch sie hatte gemerkt, dass wir nicht mehr fuhren, und schnallte sich ebenfalls los.
»Wir sind da!«, sagte ich leise.
»Ich weiß.«
»Soll ich fragen, wie Sie sich fühlen?«
»Lieber nicht.«
»Es wird alles glatt über die Bühne gehen, wenn Sie an unserer Seite bleiben.«
Darauf erhielt ich keine Antwort. Dafür öffnete sie die Tür und stieg aus.
Suko stand bereits draußen und schaute dorthin, wo die Knochengrube lag.
Ich schloss leise beide Türen und hakte unseren Schützling unter. »Sie werden immer in unserer Nähe bleiben, Vanessa. Egal, was auch geschieht. Sollte sich daran etwas ändern, sage ich Ihnen Bescheid.«
»Ich werde es mir merken.«
»Gut.«
»Können wir los?«, fragte Suko. Er stand ein paar Schritte weiter vorn im Schatten der Baubude und hatte sich zu uns umgedreht.
»Ja, wir können.«
Ab jetzt stieg in mir die Hoffnung auf, dass wir dieser Schattenfrau bald gegenüberstehen würden…
***
Die Geisterfrau und die makabre Umgebung waren für Bernie Cutler zunächst vergessen. Er hatte nur Augen für seine beiden Freunde. Sie hatten seinen Rat befolgt und die Strecke bis zur Leiter zurückgelegt.
Jetzt stiegen sie hintereinander hinab.
In der Knochengrube tat sich nichts. Niemand bewegte die Skelette, und von allein konnten sie sich nicht erheben. Ihre Totenschädel gaben hin und wieder einen schwachen Glanz ab, wenn ein Licht von der Straße über sie hinwegglitt.
Die Spannung stieg bei Bernie Cutler. Und damit verschwand auch das Gefühl der Einsamkeit. Er wusste, dass er dicht davor stand, den neuen Weg zu beschreiten, der ihn weg aus dieser schrecklichen Welt bringen würde.
In der anderen Welt würden sie sich wohl fühlen, das hatte ihnen die Schattenfrau versprochen.
Kevin Leeland und Pat Spencer hatten jetzt den Grund der Knochengrube erreicht. Sie mussten sich erst an ihre neue Umgebung gewöhnen. Deshalb
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