1550 - Die Frau aus der Knochengrube
gehörten und auf die er wartete.
Noch war er allein, und das blieb er auch in den nächsten Minuten. So gehörte die Grube ihm ganz allein. Als er die Mitte erreichte, stoppte er seine Schritte und drehte sich um.
Er dachte wieder an die Schattenfrau und an seine drei Freunde, die noch kommen wollten. Nichts war zu sehen. Ließen sie ihn im Stich?
Das Rauschen auf der Schnellstraße nahm er kaum wahr. Er war allein.
Es gab nichts anderes mehr als ihn und seine Sorgen, Wünsche und Träume. Abgesehen von einem Begleiter, der ihn auch hier nicht verlassen hatte. Das war der Wind, der seinen Weg in die Grube fand, über den bleichen Inhalt hinwegwehte und auch das Gesicht des jungen Mannes streifte. Er brachte einen frischen und feuchten Geruch mit, als hätte er diesen direkt aus den Wolken geholt.
Die Gebeine rochen nicht. Sie waren völlig neutral. Überhaupt gab es hier keine großen Gerüche, die ihn gestört hätten. Alles war so neutral, nur die Umgebung nicht.
Hinter den an den Wegen aufgeschichteten Skeletten lagen die Toten dicht an dicht. Man hatte sie zu damaligen Zeiten nicht einfach in die Grube hineingeworfen, sondern sehr wohl in einem Muster bestattet.
Den Grund kannte Bernie Cutler nicht, und er wusste auch nicht, ob hier eine Schlacht stattgefunden hatte oder die Toten Opfer eines Massenmörders gewesen waren. Alles war möglich, und wahrscheinlich konnte ihm nur die Schattenfrau Auskunft geben.
Vielleicht waren es auch ihre Opfer. Menschen, die sie danach zu einer neue Existenz geführt hatte. Zu einer geistigen oder feinstofflichen. Dass diese Skelette den Weg gegangen waren, der auch ihm und seinen Freunden bevorstand.
Noch sah er keine Chance, Antworten zu erhalten. Der Wind brachte sie nicht, und die Schattenfrau ließ sich auch nicht blicken.
Ein Ruf schreckte ihn aus seinen Gedanken.
Er drehte sich um.
Trotz der Dunkelheit sah er die Umrisse von zwei Gestalten am Rand der Grube stehen. Sie winkten ihm zu.
Bernie wischte über seine Augen.
Nur zwei?
Er schaute genauer hin. Ja, das waren Kevin Leeland und Pat Spencer.
Vanessa Brown fehlte. Das bereite ihm irgendwie Unbehagen. Sie hatte fest versprochen, zu ihnen zu kommen. Da musste etwas passiert sein.
Er winkte ihnen zu.
»Sollen wir kommen?«, rief Kevin über die Knochengrube hinweg.
»Ja. Rechts von euch gibt es eine Leiter. Ihr müsst nur ein paar Meter gehen.«
»Ist gut.«
Sie hatten verstanden und folgten seinen Anweisungen.
Bernie hätte zufrieden sein können, doch er war es nicht. Es gefiel ihm nicht, dass Vanessa nicht mitgekommen war…
***
Es war eigentlich wie immer. Suko, der gern Auto fuhr, hatte auch jetzt das Lenkrad übernommen, während ich neben ihm und Vanessa Brown hinter uns saß. Sie hatte sich auf den mittleren Sitz gesetzt, und ich sah sie im Spiegel, der unter der Sonnenschutzklappe angebracht war.
Sie saß dort wie eine Tote. Sie schaute nach vorn, und trotzdem war ihr Blick nach innen gerichtet, als wollte sie den Zustand ihrer eigenen Seele erforschen.
Ich glaubte nicht daran, dass die junge Frau noch einen eigenen Willen besaß. Sie stand unter der Kontrolle eines anderen, auch wenn es für sie im Moment nicht gefährlich war, weil sie sich im Bereich meines Kreuzes befand.
Wer war die Schattenfrau?
Diese Frage beschäftigte Suko und mich.
Wir hatten keine Ahnung. Wir kannten nicht mal ihr Motiv. Wir wussten nur, dass sie mit den Skeletten zu tun haben musste, die die Knochengrube füllten.
Da konnte einem leicht der Gedanke kommen, dass sie es gewesen war, die für die vielen Leichen gesorgt hatte. Wenn das zutraf, musste man sie als Massenmörderin bezeichnen.
So weit wollte ich noch nicht gehen. Es konnte zahlreiche Erklärungen für die Skelette in der Grube geben.
»Du denkst an sie, John?«
»Ja. Sieht man mir das an?«
»Und ob.« Suko lachte leise. »Das Grübeln bringt dich auch nicht weiter.«
»Kann sein, aber ich kann nicht anders. Wir wissen nichts über ihr Motiv.«
»Doch. Sie will Menschen in den Tod schicken.«
»Und warum?«
»Frag Vanessa.«
Ich ließ es, denn Vanessa würde nur von sich sprechen und nichts von den Motiven dieser Schattenfrau wissen.
Ich hoffte nur, dass wir ihr bald gegenüberstehen würden. Denn die Knochengrube war für mich so etwas wie ein Fixpunkt. Wenn es eine Chance gab, die Schattenfrau zu stellen, dann dort.
Und es würde nicht mehr lange dauern, bis wir unser Ziel erreicht hatten.
Die Fahrt war bisher ohne Zwischenfälle
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