1550 - Die Frau aus der Knochengrube
verstehen, aber die drei Wartenden begriffen es schon, dass sie gemeint waren.
Wer zuerst?
Sie schauten sich an. Jeder wollte sein Dasein auf der Erde beenden.
Sie hatten darauf hingearbeitet, doch jetzt, wo es keinen Weg mehr zurück gab, da zögerten sie. Wer?
Sie mussten sich entscheiden. Sie schauten sich gegenseitig an. Jeder zitterte, plötzlich war auch die Angst da. Vielleicht dachten sie daran, dass sich schon sechs ihrer Freunde aus der Clique erhängt hatten. Auf sie schien nun eine andere Todesart zu warten, denn wohin sie auch schauten, es gab keine Schlinge zu sehen.
Bernie meldete sich, und seine Stimme war kaum zu verstehen.
»Ich werde gehen.«
Kevin und Pat sagten nichts. Sie schraken nicht mal zusammen, und Bernie Cutler sah dies als Zustimmung an. Zudem musste ja einer den Anfang machen.
Bernie blieb nicht mehr auf seinem Platz stehen. Er tat den ersten Schritt und verkürzte die Entfernung zwischen sich und der Schattenfrau.
Auf ihn wartete das Jenseits. Das neue Leben, das zugleich der Tod war.
Er hatte Zeit genug gehabt, sich darauf vorzubereiten. Jetzt, wo es kein Zurück für ihn gab, zitterten ihm schon die Knie. Er fragte sich auch für einen Moment, ob es seinen Freunden kurz vor ihrem Tod ebenso ergangen war.
Einen Schritt vor der Schattenfrau blieb er stehen. Er sah sie jetzt noch besser und erkannte, dass ihr Körper von einem hellen Schimmern umgeben war, das er aus der Entfernung nicht wahrgenommen hatte.
Die Geisterfrau streckte ihm die Hände entgegen.
Bernie schaffte es nicht, seine Arme zu heben und dieses Wesen zu berühren.
Kam sie vor?
Nein, das tat sie nicht.
Sie blieb in ihrer Haltung, und er hörte wieder die Stimme in seinem Kopf. Zugleich veränderte sich die Umgebung.
Von allen vier Seiten schickten plötzlich starke Scheinwerfer ihr grelles Licht über die Knochengrube…
***
Was Suko und Vanessa unternahmen, das kümmerte mich in diesem Augenblick nicht. Ich verfolgte meine eigenen Pläne, und ich hatte zudem das Glück, die Leiter in meiner Nähe zu wissen. Ich ging die Sprossen nicht normal nach unten, ich rutschte an den Seiten der Leiter hinab.
Von unserem ersten Besuch in der Knochengrube wusste ich noch genau, wo ich hinlaufen musste.
Suko würde von einer anderen Seite her kommen. Da ich seine Schnelligkeit kannte, würden wir wahrscheinlich gleichzeitig bei der Schattenfrau eintreffen.
Gebeine, kahle Schädel, skelettierte Hände und Füße umgaben mich rechts und links und huschten an mir vorbei. Meine langen Schritte brachten mich schnell voran, bis ich plötzlich so etwas wie einen Schlag erhielt und meinen Lauf stoppte.
Zwei Dinge hatten dafür gesorgt.
Zum einen war es das Kreuz, das mich wieder warnte. Ich hatte es noch kurz vor dem Start vor meine Brust gehängt. Einen Wärmestoß spürte ich nicht, dafür sah ich die Lichtfunken, die über das edle Metall tanzten.
Das allein wäre kein Grund gewesen, anzuhalten. Dass ich so abrupt stehen blieb, lag an etwas anderem.
In meinem Kopf vernahm ich eine fremde Stimme. Ich hörte sie, obwohl ich niemanden sah, der zu mir sprach. Diese Stimme musste durch mein Kreuz aufgefangen und an mich weitergegeben worden sein.
Die Welt steckte doch immer wieder voller Überraschungen, denn damit hatte ich nicht gerechnet.
Ich sah den Sprecher oder die Sprecherin nicht, dennoch waren die Worte so laut, dass ich sie gut verstand.
Es war die Stimme der Schattenfrau, die mein Kreuz aufgefangen hatte.
Und mein Talisman sorgte dafür, dass ich jedes Wort verstand, auch wenn sich diese Stimme künstlich anhörte, als wäre sie durch ein technisches Hilfsmittel erzeugt worden.
Ich werde dich zu mir holen, mein Freund, wie ich auch die anderen Menschen zu mir geholt habe, die hier liegen. Viele Jahrhunderte sind vergangen. Es gibt keine Erinnerung mehr an die Toten, aber ich habe sie nicht vergessen. Es sind Menschen gewesen, die die menschliche Gemeinschaft nicht mehr haben wollte. Die von der Bevölkerung vor den Mauern der Stadt verscharrt wurden. Pesttote, Kranke, Selbstmörder und Verbrecher. Für sie hat man damals die Knochengrube geschaffen, weil sie der Gemeinschaft im Wege waren. Aber der Tod macht alle gleich, und das Jenseits kennt keine Unterschiede. Und so habe ich mich ihrer angenommen. Ich holte mir ihre Seelen, die verdammt waren, in der Hölle zu schmoren, wie ihr Menschen sagt. Ich habe mich aus ihnen entwickelt, ich bin sie. So bin ich zu einer Schattenfrau geworden, die im
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