1564 - Wenn die Toten sprechen
nicht.
Nach dem Verlassen des Hauses war sie geflohen und hatte sich ein Versteck gesucht. Und es gab nur einen Ort, an dem sie sich einigermaßen wohl und sicher fühlte. Deshalb hatte sie sich für den Friedhof entschieden, denn hier war sie relativ allein. Spaziergänger gab es zwar, doch ihre Anzahl hielt sich in Grenzen.
Und so hockte sie in ihrem Versteck hinter einer großen Gruft, wo das Gestrüpp einen recht dichten Gürtel bildete.
Die Stimmen der Toten quälten sie. Maria konnte zwar nicht verstehen, was im Einzelnen gesagt wurde, aber sie hörte den Vorwurf aus dem Gezischel und dem fast schon wehleidigen Sprechen heraus. Man wollte ihr nicht mehr vertrauen.
Konkret wurden die Stimmen nicht, bis sie eine Stimme hörte, die sich von den anderen abhob.
Und die erkannte sie.
Es war Edith Butler, die zu ihr sprach!
Maria zuckte heftig zusammen. Sie ging in die Hocke und presste beide Hände gegen die Ohren, obwohl sie wusste, dass es nichts brachte. Die Stimmen erreichten sie nicht durch die Ohren, sie drangen in ihren Kopf ein, und es war die der toten Edith, die sie besonders quälte.
»Warum hast du es zugelassen? Warum hast du mich nicht gerettet? Du hättest es gekonnt. Aber du hast nichts dagegen getan. Und so musste ich sterben.«
Die Vorwürfe erschütterten Maria. Sie war nicht mehr fähig, ihre Tränen zurückzuhalten, und sie wusste auch, dass die Tote eine Antwort von ihr erwartete.
»Ich wusste nicht, dass so etwas geschehen würde. Bitte, ich war völlig ahnungslos! Das musst du mir glauben. Hätte ich es gewusst, wäre alles anders gekommen.«
»Aber jetzt lebe ich nicht mehr. Ich kann auch noch nicht weiter. Ich schwebe im Kreis, und ich suche eine Erklärung dafür, die ich noch nicht finden kann.«
»Was soll ich denn tun?«
»Meine Mörder finden, Maria. Du musst sie jagen und sie stellen. Erst dann werde ich weitergereicht. Es ist hier so anders. Ich habe keinen Körper mehr, aber ich spüre die Kälte, die mich umgibt wie ein Eispanzer.«
»Bitte, ich weiß nicht, wer dich umgebracht hat. Ich habe deine Mörder nicht gesehen.«
»Es waren die Kreaturen aus der Hölle. Sie und keine anderen haben mich getötet! Der Teufel hat sie freigelassen. Er wollte damit nicht nur mich treffen, sondern auch dich. Er hasst dich, und er ist dir auch auf der Spur. Er will nicht, dass du Menschen rettest. Er will sie sterben sehen!«
»Und das weißt du genau?«
»Ja, denn ich habe es spüren können. Hier ist alles anders als bei dir.«
»Und warum hat man dich getötet?«
»Das ist leicht zu beantworten. Ich war gut zu dir. Ich war eine Freundin von dir. Ich habe zu dir gehalten. Darum musste ich sterben. Und es ist auch eine Warnung für dich gewesen. Jetzt habe ich dir alles gesagt. Der Teufel hat seine Hände ausgebreitet und schickt uns seinen grausamen Segen.«
Es waren keine Worte, die Maria trösten konnten. Sie fühlte sich immer schlechter, aber sie merkte, dass die Stimme der toten Edith immer leiser wurde und schließlich ganz verschwunden war.
Wie lange Maria auf dem Platz hocken blieb, das wusste sie nicht zu sagen. Sie kam sich vor wie eine Gefangene in einem Vakuum.
Die Toten waren noch da, aber ihre Stimmen waren sehr leise im Vergleich zu der Edith Butlers. Es lag daran, dass sie zu weit weg waren, in einer anderen Sphäre, die der des Todes vorgelagert war. Edith befand sich in einem Zwischenreich, und sie schien Probleme zu haben, es zu verlassen. Und ich? Was tue ich? Diese Frage ließ sich nicht so leicht beantworten. Durch den Tod der Frau fühlte sich Maria irgendwie heimatlos. Sie wusste nicht, wohin sie sich wenden sollte, denn auf dem alten Friedhof konnte sie nicht für immer bleiben.
Man wollte ihr die Aufgabe nehmen. Sie konnte der Hölle und dem Bösen nicht gefallen. Menschen warnen und sie vor dem Tod bewahren, das passte der anderen Seite nicht, die sich vielleicht schon auf eine Seele gefreut hatte.
Und sie murmelte einen Satz vor sich hin, der perfekt passte.
»Ich bin ein Opfer der Hölle. Man wird mich jagen. Man wird versuchen, mich zu töten. Ich werde nicht entkommen können. Ich bin nicht stärker als der Teufel.«
Die eigenen Worte sorgten bei ihr für eine Schwäche. Sie spürte sie in den Beinen und drückte den Oberkörper nach vorn, weil sie sich an der Gruft abstützen wollte.
Was sie hier gehört hatte, was grausam gewesen. Es hatte ihr den Mut genommen, und sie wusste, dass sie von nun an auf eine gewisse Weise fremdbestimmt
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