1564 - Wenn die Toten sprechen
sein würde. Etwas anderes konnte sie sich nicht vorstellen.
Immer wieder stellte sie sich die Frage, warum mit ihr so etwas geschah? Warum gerade ich? Warum keine andere Person? Sie fand keine Antwort. Mit beiden Fäusten schlug sie gegen das Gestein, doch auch das brachte sie nicht weiter. Es war alles so schrecklich.
Sie wischte die Tränen nicht ab, die über ihre Wangen rannen.
Schwindel hatte sie ergriffen, und sie war froh, eine Stütze zu haben.
Sie konnte und wollte nicht an diesem Ort bleiben. Und erneut stellte sie sich die Frage, wohin.
Maria kannte die Antwort. Es gab nur die eine.
Sie würde so schnell wie möglich den Friedhof verlassen und dorthin gehen, woher sie kam und wo sie zu Hause war.
Das Haus, das Hotel. Der Ort, an dem die grausame Tat geschehen war.
Eine andere Alternative gab es für sie nicht. Hinlaufen und sich weiterhin verstecken.
Zufrieden konnte sie damit nicht sein, denn sie dachte immer wieder an die Stimme der toten Edith Butler. Ihr Geist würde sie verfolgen, davon musste sie einfach ausgehen, und er würde sie erst in Ruhe lassen, wenn es ihm passte. Nach diesen Gedanken wischte sie ihr nasses Gesicht ab und machte sich auf den Weg…
***
Wir hatten das Hotel erreicht, das nicht besonders groß war und recht idyllisch lag. Es war von Bäumen umgeben, die auf dem Grün des Rasens standen. Das Licht der Sonne verfing sich in den kleinen Blättern und malte ein Muster aus hellen Flecken auf den Boden.
Das Personal war von der Polizei weggeschickt worden.
Jetzt lag das Hotel verlassen vor uns, und nicht ein Fahrzeug parkte vor dem Haus, auf dessen Eingang wir zugingen.
Wir betrachteten die Fassade aus Backsteinen und sahen auch die großen Fenster. Ein Zeichen dafür, dass dieses Hotel zu den älteren Gebäuden gehörte und eine ganze Reihe von Jahrzehnten auf dem Buckel hatte.
Die Umgebung wirkte sehr sauber. Um das kleine Hotel herum gab es einen schmalen Streifen aus Kies, den wir allerdings nicht betreten mussten, als wir auf den Eingang zuschritten.
Vor ihm mussten wir auf eine breite Stufe treten, die schon einer Platte glich.
Das Polizeisiegel war nicht zu übersehen.
Die Tür ließ sich mit dem Schlüssel öffnen, den uns Frank Taylor gegeben hatte.
Suko schloss die Tür auf, nachdem er das Siegel durchbrochen hatte.
Vor uns lag kein Flur, sondern so etwas wie eine Lobby, die man auch als kleine Halle bezeichnen konnte.
Wir gingen auf die Anmeldung zu. In der Stille hörten wir die Echos unserer Tritte auf dem Steinboden, der so blank war, dass man sich darin spiegeln konnte.
Das Hotel machte auf mich keinen verlassenen Eindruck. Es schien nur jemand für ein paar Minuten weggegangen zu sein, der bald wieder zurückkehren würde.
Der Boden war nicht überall so sauber. Wir sahen, wo die Kollegen gegangen waren, und den Weg nahmen wir ebenfalls. Die Treppe nach oben ließen wir zunächst links liegen.
Der Weg führte uns in einen Flur. An den Wänden hingen Bilder, die verschiedene Kirchen zeigten. Manche waren Fotos, andere wiederum Gemälde.
Vor einer Tür, die geschlossen war, endeten die Fußspuren. Dahinter musste das Mordzimmer liegen.
Da Suko weiterhin vor mir herging, war er es auch, der die Tür öffnete.
Es geschah langsam. Jeder von uns war von einer gewissen Spannung erfasst worden.
Das Zimmer war leer. Etwas anderes hatten wir auch nicht erwartet.
Ich schob mich hinter Suko über die Schwelleund schaute mich ebenso um wie er.
Wir sahen beide das Gleiche.
Ein langer Tisch, der sich für Konferenzen eignete. Stühle standen davor, doch nicht so aufgereiht, wie es normal gewesen wäre. Sie waren zur Seite gerückt worden, denn die Spurensicherung hatte Platz gebraucht, um sich mit dem Leichnam auf dem Tisch zu beschäftigen.
Auf ihm hatte die Tote gelegen, und das war auch jetzt noch deutlich zu sehen, denn ihr Körper war durch Kreidestriche nachgezeichnet worden.
Es war ein Bild, das ich schon unzählige Male gesehen hatte, dennoch lief mir ein leichter Schauer über den Rücken, weil ich auch das Blut sah, das bereits auf der Oberfläche eine Kruste gebildet hatte. Fliegen hatten sich noch nicht versammelt, aber der Blutgeruch lag zwischen den Wänden des Zimmers.
»Und?«, fragte Suko.
Ich hob die Schultern. »Wenn du wissen willst, was ich fühle, da muss ich im Moment passen. Ich fühle nichts. Wir stehen in einem Zimmer, in dem eine harmlose Frau brutal ermordet wurde. Das ist es, was mich bedrückt.«
»Warum brachte man
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