157 - Das Erbe der Alten
seinem Geäst richteten sie sich ein.
Der Meister des Strahls stimmte den Großen Hymnus vom Sieg des Lebens über den Tod an, Windtänzer und Aquarius stimmten ein. Der dreistimmige Gesang tönte aus der Starkbaumkrone über den Kraterhang bis hinunter in den Wald des Talkessels. Nach und nach flogen Vögel und Insekten herbei, setzten sich neben sie auf die Äste oder auf ihre Köpfe und Glieder, und flogen irgendwann wieder davon…
***
In den Sichtfeldern der Außenoptik lichtete sich der Wald.
Automatisch wählte der Waldläufer die breitesten Schneisen zwischen den Stämmen. Haine voller Hecken, Gestrüppfelder und ausgedehnte rötliche Grasflächen rückten in den Aufnahmebereich der Bugkameras. Allmählich ging der Wald in Buschland über. Der Waldläufer beschleunigte.
Zum ersten Mal nach dreizehn Stunden Fahrt empfand Curd Renatus Braxton ein Gefühl von Geschwindigkeit. Der Blick auf die Armaturen bestätigte ihn: 83 km/h. Ja, jetzt ging es endlich voran!
Sein nächster Blick galt dem Navigationssystem: 731 Kilometer lag Elysium bereits hinter ihnen. Noch knapp fünfhundertfünfzig Kilometer bis zur Küste, und dann noch einmal etwas mehr als siebenhundert Kilometer bis nach Utopia. Dieses letzte Drittel der Reise jedoch würde nicht halb so viel Zeit in Anspruch nehmen wie die beiden ersten zusammen. Im Amphibien-Modus erreichte der Waldläufer – auf ruhigem Gewässer und bei günstigen Windverhältnissen –Geschwindigkeiten von über hundertvierzig Kilometern pro Stunde.
Hinter Braxton kroch jemand durch die Rundluke aus Segment II ins Cockpit. »Können Sie noch, oder soll ich Barcon Petero wecken?« Reza Gundol Gonzales ließ sich neben Braxton in den Sitz des Copiloten fallen.
»Wovon soll ich müde sein? Das Gerät steuert sich ja von allein.«
»Wie Sie meinen.« Reza Gundols Blick wanderte über die Anzeigen auf der Instrumentenkonsole. »Wir werden deutlich unter dreißig Stunden bleiben, wenn es weiter so gut läuft.«
»Davon gehe ich auch aus.« Curd Renatus betrachtete den Gonzales-Enkel von der Seite. Nie zuvor hatte er einen Menschen mit einer derart eindrucksvollen Hakennase gesehen.
»Was ich nicht verstehe, werter Herr Gonzales – warum warten wir nicht einfach, bis der Brechsteinschlepper den Erdmann erwischt hat, und senden ihm dann das Neutralisationsprogramm über die Frequenz seines Peilsenders? Die Maschine fällt aus und bleibt stehen, und wir holen uns Drax.«
»Wenn das so einfach wäre, würden wir es tun.« Reza Gundol runzelte die grauen Brauen. »Glauben Sie etwa, wir hätten nicht auch daran gedacht? Es ist nur leider ein Gigaprogramm; wir bräuchten zwanzig Minuten, bis es vollständig im Rechner des Cyborgs geladen ist. Wenn die Verbindung in dieser Zeit abbricht, haben wir ein Problem. Also muss ihm jemand den Magneten auf die Karosserie setzen.« Er aktivierte den Senderempfang. »Schauen wir mal, was es Neues gibt.« Zwischen Braxtons Instrumententafel und der Konsole mit den Kommunikationsmodulen flackerte ein D-Feld auf. »Vielleicht ist etwas dabei, das uns interessieren muss.«
Im Holofeld leuchtete das ENT -Symbol auf, das Zeitzeichen ertönte, ein Männergesicht nahm Konturen an: der Nachrichtensprecher. Er trug rote Strähnen im silbermetallic gefärbten Langhaar und einen großen Kreolenring im linken Ohr. »Elysium News Transmitter begrüßt alle unsere hoch verehrten Herren und Damen Zuschauer zu den Frühabendnachrichten…« Er verlas die Schlagzeilen des Tages.
Im Wesentlichen wiederholten sich die Meldungen der vergangenen Nacht: Haftverschärfung für einen wegen der Entführung des Erdbarbaren angeklagten Waldmannes – angeblich hatte er die Ratspräsidentin beleidigt; die Suche nach dem verschollenen Präsidentenberater Carter Loy Tsuyoshi noch immer erfolglos; auch von dem geflohenen oder entführten Erdmann bisher keine Spur; der schwer verletzte Submagister Sigluff Cainer Bergman auf dem Wege der Besserung; die unter bislang ungeklärten Umständen tödlich verunglückte Leiterin der Forschungsstation auf dem Phobos, Athena Tayle Gonzales, unter großer Anteilnahme ihres Hauses beigesetzt; Panik durch eine marodierende Arbeitsmaschine in einer Taxihalle in Utopia.
Und dann eine neue Schlagzeile: »In der vergangenen Nacht drangen Unbekannte in die Grotte des Strahls ein…«
»Macht lauter.« Tartus Marvin hing mit dem Oberkörper in der Rundluke zwischen Segment I und II. »Die anderen wollen wenigstens mithören.«
Der Enkel
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