158 - Die Seele aus dem Zwischenreich
mit ihm zu fliehen, denn sie waren davon überzeugt, daß niemand durchkam.
Gespannt beobachtete Dru die Wachen auf dem Turm. Die beiden Männer redeten miteinander, ihre Aufmerksamkeit litt darunter. Nervös holte Dru die lange Stange aus dem Versteck. Plötzlich war ihm, als hätte man ihn mit Eiswasser übergossen. Jemand befand sich hinter ihm. Er spürte es ganz deutlich. Wie von der Natter gebissen fuhr er herum. War seine Flucht schon zu Ende, ehe sie begonnen hatte?
Der Mann, den er erblickte, war zum Glück ein Freund: Lloyd Hemmings -fast ebenso lange im Lager wie Ben Rudnik. Auch Lloyd hatte ihm von der Flucht abgeraten.
»Du versuchst es also doch«, stellte Hemmings fest.
»Ich kann nicht anders«, entschuldigte sich Dru. »Vielleicht komme ich durch, dann werde ich sehen, wie ich euch rausholen kann.«
»Ich drücke dir die Daumen, mein Freund«, sagte Hemmings, »und ich bewundere deinen Mut.«
»Gar so weit ist es mit meinem Mut nicht her«, erwiderte Dru. »Ich muß einem übermächtigen Zwang gehorchen. Vielleicht wurde er aus einer Todessehnsucht geboren. Geh in die Hütte, damit man dich nicht mit mir sieht, sonst kriegst du Ärger. Ich war vorhin bei Jachedran. Er wollte mich zu seinem Spitzel machen. Seid vorsichtig. Vielleicht hat er sich nicht nur an mich gewandt.«
»Er scheint es darauf anzulegen, daß wir einander nicht mehr vertrauen.«
»Grüß die anderen von mir«, flüsterte Dru.
»Mach es gut«, sagte Hemmings und verschwand.
Dru nahm die lange Holzstange in beide Hände und wandte sich der Stacheldrahteinfriedung zu. Wenn er erst einmal losgerannt war, gab es kein Zurück mehr.
***
Lauren Pleasence erkannte an Drus Blick, daß er nicht bluffte. Er hatte tatsächlich die Absicht, sie zu töten. Wahnsinn! Laurens Herz schlug bis zum Hals hinauf. Immer wieder las man in der Zeitung von Lust- und Meuchelmördern, aber das passierte immer nur den anderen, nie einem selbst. Niemand kann sich vorstellen, als Opfer eines kranken Killers zu enden, und doch kommt es immer wieder dazu. In dieser Nacht sollte Lauren ihr junges Leben verlieren.
Entsetzt lehnte sie sich gegen dieses grausame Schicksal auf. Sie drehte sich um und ergriff die Flucht. Sterling Dru folgte ihr. Sie warf hinter sich Stühle und Stehlampen um. Dru sprang wie ein Hürdenläufer über die Hindernisse, und er war verdammt schnell. Das blonde Mädchen schrie gellend um Hilfe, doch niemand hörte es. Dru schnitt ihr in der Halle den Weg zur Haustür ab. Sie überlegte nicht lange, jagte die Treppe hoch und verbarrikadierte sich in einem der Räume.
Dru warf sich kraftvoll gegen die Tür. Lauren stemmte sich verzweifelt dagegen. Sie weinte, schluchzte und schrie. Dru hieb mit dem Messer zu. Die lange Klinge bohrte sich knapp neben Laurens Kopf durch das Holz. Sie verlor vor Angst fast den Verstand. Dru wütete draußen. Er stach noch zweimal mit ungeheurer Kraft zu. Lauren löste sich von der Tür, vor die sie in großer Eile eine Kommode geschoben hatte.
Das Fenster war vielleicht die Rettung.
Während Dru draußen tobte und die Tür endlich aufkriegen wollte, rannte das Mädchen zum Fenster und öffnete es.
Sie wollte so schnell wie möglich über die Fensterbank klettern und in die Tiefe springen. Unten war Gras. Sie würde weich landen. Dru drückte die Kommode zur Seite. Er zwängte sich durch die Öffnung und sah Lauren. Ihre Beine befanden sich bereits draußen. Sie durfte ihm nicht entkommen.
Als sie sich abstoßen wollte, erreichte er sie. Mit der Linken packte er zu und riß sie zurück.
Und dann kam das Messer, bevor Lauren schreien konnte…
***
Im Höllencamp setzte Sterling Dru alles auf eine Karte. Er startete, ohne von den Wächtern bemerkt zu werden. Er kümmerte sich nicht um sie, schaltete völlig ab, konzentrierte sich nur auf diese Aktion, die unbedingt gelingen mußte. Bevor er den langen Stab einsetzte, durchzuckte ihn ein Gedanke: Hoffentlich bricht er nicht. Dru wußte nicht, wie widerstandsfähig das Holz war.
Knapp vor dem Zaun rammte er es in den Boden. Die Stange bog sich, Dru stieß sich ab, zog sich mit angespannten Muskeln nach oben, schwang seitlich am Stab vorbei und drückte die gestreckten Beine so hoch wie möglich.
Dafür, daß er so etwas noch nie gemacht hatte, gelang es ihm erstaunlich gut.
Er sauste wie vom Katapult geschleudert über den Stacheldraht und hätte am liebsten einen Jubelschrei ausgestoßen, doch zum Jubeln war es noch zu früh.
Die Wachen
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