1595 - Die sterbenden Engel
wunderte. Alles war anders als sonst, und als sie in das Gesicht schaute, da sah sie, dass sich der Mund zu einem leichten Lächeln verzog.
Wer etwas Böses im Schilde führt, der lächelt nicht, dachte das Mädchen. Melanie war jetzt vielmehr davon überzeugt, dass die Nackte auf sie gewartet hatte.
Melanie nahm all ihren Mut zusammen, bevor sie die erste Frage stellte.
»Wie heißt du denn?«
»Mina.«
»Ich bin Melanie.«
»Schöner Name.«
Melanie Morton wunderte sich nicht über die Antwort, sondern nur über deren Klang. Das war für sie komisch. Die Stimme hallte nach, als stünde Mina in einem großen Raum.
»Hast du Angst, Mina?«
Die Nackte schaute sich um und duckte sich zugleich. Ihr Verhalten war schon eine Antwort auf die Frage.
Es war seltsam und Melanie wunderte sich auch über sich selbst. In ihr stieg so etwas wie ein Beschützerinstinkt auf, und sie flüsterte: »Du brauchst keine Angst zu haben. Ich habe auch keine, weißt du?«
»Das ist schön.«
»Und wo kommst du her?«
»Ach, von woanders.«
»Aus einer anderen Stadt?«
»Kann sein.«
»Und warum bist du iiackt bei diesem Wetter? Frierst du denn gar nicht?«
»Was ist nackt?«
Melanie hörte die Frage und wusste damit nichts anzufangen. Aus Verlegenheit fing sie an zu lachen und hob ihre Schultern an. »Na ja, du bist nicht angezogen. Das ist fast wie im Märchen von den Sterntalern…«
»Was ist das?«
»Schon gut. Aber jetzt musst du keine Angst mehr haben, das verspreche ich dir. Ich bringe dich zu meinen Eltern oder in den Stall, wenn du willst. Da kannst du auch etwas anziehen. Willst du das?«
Mina schaute sich um. Sie tat es auf eine Art und Weise, die Melanie misstrauisch werden ließ.
»Was ist denn? Suchst du was?«
»Ja.«
»Und was?«
»Er kann mich finden.«
»Wer denn?«
»Er will wich töten.«
»Wer?«
»Der Schatten. Der Unsichtbare. Auch ein Engel, wenn du verstehst.«
Sie schüttele den Kopf. »Nein, du verstehst nicht. Du kannst mich nicht verstehen.«
Allmählich wurde es Melanie wieder unheimlich. Das Lächeln war nur gespielt, als sie fragte: »Sollen wir nicht lieber gehen?«
»Wohin?«
»In den Stall oder so.«
Mina legte den Kopf schief. »Nein, ich weiß nicht. Er wird kommen. Er ist so böse.«
»Dieser Schatten?«
»Ja, der Töter. Er hasst uns. Er ist in unsere Welt eingedrungen, und er ist so stark.«
Melanie nahm alles recht gelassen auf. Das lag an ihrem kindlichen Gemüt. Sie fragte: »Hafer auch einen Namen?«
Da zuckte Mina zusammen. »Nein, nein, den sage ich dir nicht. Er ist so böse. Er hasst uns.«
»Und wer seid ihr?«
»Man kann uns eigentlich nicht sehen. Oder meist nicht. Wir sind etwas Besonderes, weißt du?«
»Das sehe ich. Ich habe so etwas noch nie erlebt.« Melanie nickte.
»Können wir jetzt gehen?«
»Wohin?«
»Hatte ich dir schon gesagt.«
»Willst du mich wirklich mitnehmen?«
»Ja, das will ich. Vielleicht können wir dir auch helfen. Ich sage meinen Eltern Bescheid und…«
»Bitte nicht. Mir kann keiner helfen. Es ist zu gefährlich. Für euch, ja, für euch.«
»Aber was willst du dann hier?«
»Ich suche trotzdem Hilfe. Es gibt den Mann mit dem Kreuz. Der kann uns helfen.«
»Ist das unser Pastor?«
»Das weiß ich nicht. Aber er soll sehr mächtig sein. Er ist ein Freund der Engel und ein Feind der Hölle. Die Engel dürfen nicht sterben, verstehst du?«
Melanie blieb beinahe der Mund offen stehen. Sie wunderte sich, dass sie noch eine Frage stellen konnte.
»Hat du Engel gesagt?«
»Ja, das habe ich.«
»Dann bist du wirklich ein Engel?«
»Man nennt uns so.«
Plötzlich war ein wunderbarer Glanz in Melanies Augen.
»Ich wusste doch, dass es Engel gibt!«, flüsterte sie. »Ich habe immer daran geglaubt. Aber ich weiß nicht, ob du wirklich ein Engel bist.«
»Was stört dich denn?«
»Du hast keine Flügel.«
Da hörte Melanie ein silberhelles Lachen. »Nicht alle Engel haben Flügel. So denken die Menschen nur. Ich bin auch nur ein Engel der unteren Stufe. Es gibt welche, die viel stärker sind als ich.«
»Aber du bist nicht mein Schutzengel?«
»Nein.«
Melanie lachte. »Gut«, sagte sie locker, »dann drehen wir das eben um. Ich bin jetzt dein Schutzengel. Komm, wir gehen.«
»Wohin?«
»Wolltest du nicht zu dem Mann mit dem Kreuz?«
»Ja.«
»Ich bringe dich hin.«
Mina zögerte einen Moment. Dann fragte sie: »Kennst du ihn wirklich?«
»Ja, bestimmt.«
»Gut, dann lass uns gehen.«
»Das würde ich
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