1595 - Die sterbenden Engel
Begleiterin. Ich würde von einer jungen Frau sprechen, die sich sehr seltsam benimmt. Sie will zu dem Mann mit dem Kreuz. Melanie meint, dass sie ein Engel ist, und ich weiß nicht, was ich von dieser nackten Person halten soll.«
Mir war plötzlich, als hätte man mir mehrere Stromstöße auf einmal versetzt. An der anderen Seite des Schreibtisches sprang Suko auf.
Sogar aus dieser Entfernung sah ich die Gänsehaut auf seinem Gesicht.
»Nackt, sagen Sie?«, rief ich lauter als gewöhnlich.
»Ja.«
»Bleiche Haut?«
»Auch.«
Ich riss mich zusammen, um meine Stimme möglichst ruhig klingen zu lassen. »Hören Sie, Mr. Davies, bleiben Sie da, wo Sie sind. Lassen Sie alles so. Sagen Sie mir nur, wo wir Sie finden können. Dann sind wir so schnell wie möglich bei Ihnen.«
»Gut. Aber was ist denn plötzlich los?«
»Ich weiß es selbst noch nicht. Aber hüten Sie die nackte Person wie Ihren Augapfel.«
»Ja, ja.«
»Und wo müssen wir hin?«
Ich erhielt die Adresse und bat ihn noch mal, nichts zu unternehmen. Danach legte ich auf und jagte von meinem Stuhl hoch.
Suko stand schon halb in Glendas Büro, nickte mir zu und sagte: »Das war es doch.«
»Hoffentlich«, erwiderte ich nur…
***
»Zufrieden?«, fragte Reverend Davies, als er den Hörer auflegte.
Melanie Morton, die auf einem Stuhl in der kleinen Sakristei saß, nickte.
»Ja, ich bin froh, dass Sie es geschafft haben, Reverend. Ich hätte sonst auch nicht gewusst, wie es weitergehen soll. Mina hat immer von dem Mann mit dem Kreuz gesprochen, und jetzt bin ich froh, dass Sie ihn gefunden haben.«
Melanie sprach wie eine Erwachsene. Dabei lächelte sie und drehte den Kopf Mina zu.
Sie saß auf dem alten Sofa mit den hohen Seitenlehnen. Etwas zu trinken und zu essen hatte sie abgelehnt.
Melanie fragte sich, ob Engel überhaupt essen mussten. Ihrer Meinung nicht, aber das war jetzt egal. Sie war froh, bei Reverend Davies zu sein und dass er die richtige Idee gehabt hatte.
Mina war nicht mehr nackt. Der Geistliche hatte ihr eine alte Hose gegeben, etwas längere Shorts, und der kleineren Mina passte sie leidlich. Hinzu kam die lange Jacke, die bei ihr mehr wie ein Mantel aussah. Sie hatte ihn auch zugeknöpft, und aus dem Ausschnitt schaute ihr kleiner Kopf hervor mit dem sehr blassen Gesicht, das von den dunklen Locken umrahmt wurde.
Melanie Morton trank ihren Kakao. Zuvor hatte sie noch im Reitstall angerufen und erfahren, dass Gipsy den Weg allein zurückgefunden hatte. Darüber war sie sehr froh, und sie konnte auch die Besitzerin des Stalls beruhigen, dass ihr selbst nichts passiert war. Was genau geschehen war, hatte sie verschwiegen. Das würde ihr sowie keiner glauben.
Ihre Mutter hatte sie ebenfalls angerufen und beruhigt. Dass sich die Tochter beim Pfarrer befand, hatte sie akzeptiert und nur gebeten anzurufen, wenn sie Melanie abholen sollte.
Das hatte das Mädchen seiner Mutter auch versprochen, nur dachte es nicht daran, das Haus des Pfarrers so schnell zu verlassen.
Reverend Davies wohnte in drei kleinen Räumen, die von der Sakristei aus zu erreichen waren. Frau und Kinder hatte er nicht. So war er unabhängig und konnte schalten und walten, wie er wollte.
Melanie wischte sich einen Kakaostreifen von der Oberlippe, bevor sie fragte: »War das denn ein gutes Gespräch eben?«
»Ja, das kann ich behaupten. Es war die richtige Person. Dieser John Sinclair schien mir wie elektrisiert zu sein, als er von deiner Begleiterin hörte. Er schien regelrecht auf einen derartigen Anruf gelauert zu haben.«
»Ja, dann ist er der richtige Mann mit dem Kreuz.«
Den Satz hatte Mina gehört. Sie hob den Kopf und fragte mit leiser Stimme: »Wann kommt er?«
»Bald«, sagte der Geistliche.
Melanie wollte es genauer wissen. »Kennen Sie ihn denn, Reverend? Haben Sie ihn schon mal gesehen?«
»Nein.«
»Aber Sie kennen ihn trotzdem?« Der Reverend nickte. »Viele kennen ihn.«
Melanie musste über die Antwort nachdenken. »Kennen ihn auch die Engel?«
»Ich denke schon.«
Cecil Davies richtete seinen Blick auf Mina, die jedoch nichts sagte. Es war ihr zudem nicht anzusehen, ob sie das Gespräch überhaupt verfolgt hatte. Der Mann hoffte, dass er die richtigen Worte gefunden hatte. Mehr konnte er nicht sagen. Er hätte sonst zu sehr lügen müssen. Er wollte keine falschen Hoffnungen wecken. Er glaubte an eine Gefahr, auch wenn die Szene hier in seiner Sakristei recht harmlos aussah.
Melanie Morton hatte sich wieder gefangen. Es gefiel
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