1595 - Die sterbenden Engel
ihr nicht, dass Mina so schweigend dasaß.
»Bist du sauer?«, fragte sie.
Mina gab keine Antwort.
Das wunderte Melanie. Sie wandte sich an Cecil Davies, der Mina ebenfalls beobachtete. »Schläft sie?«
»Nein, das glaube ich nicht.«
»Was ist denn mit ihr?«
»Nun, ich denke, dass sie nachdenkt. Wenn jemand denkt, ist das doch nicht so schlecht, oder?«
»Das stimmt.« Melanie lächelte. »Ob sie wohl darüber nachdenkt, wo sie hergekommen ist?«
»Kann sein.«
»Vielleicht aus dem Himmel.«
Der Pfarrer runzelte die Stirn. »Wie kommst du denn darauf?«
Das Mädchen musste schlucken. »Ganz einfach, Reverend. Man sagt doch, dass die Engel im Himmel leben. Und wenn Mina ein Engel ist, dann muss sie aus dem Himmel gekommen sein. Das ist doch eine ganz einfache Sache, nicht wahr?«
Cecil Davies musste lächeln. Er konnte der Logik des Mädchens nichts entgegensetzen.
»Wir könnten sie doch fragen«, flüsterte Melanie, »wie es im Himmel aussieht.« Plötzlich glühte ihr Gesicht. »Mann, das wäre toll. Ich wüsste dann Bescheid. Ich wäre die Einzige und könnte meinen Freundinnen vieles erzählen. Wer kennt schon einen Engel? Ich bisher nicht. Ob meine Freundinnen auch mal einen kennengelernt haben, das weiß ich nicht. Bestimmt nicht, sonst hätten sie davon erzählt.«
Der Geistliche wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Er wollte das Kind nicht in eine falsche Richtung leiten. Es war eine schlichte Frage gewesen, doch die Antwort darauf konnte nicht so einfach gegeben werden. Die Materie war zu kompliziert, und deshalb versuchte der Mann, das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken.
»Ich denke, Melanie, dass Mina jetzt andere Sorgen hat, als dir deine Fragen zu beantworten. So jedenfalls sehe ich die Dinge. Mina befindet sich auf einem fremden Gebiet, und es ist die Frage, ob sie sich dort auch wohl fühlt. Wir wissen nicht, weshalb sie zu uns gekommen ist und…«
»Sie hat Angst, glaube ich.«
Cecil Davies nickte. »Ja, das kann gut sein. Dann müssen wir eben versuchen, ihr die Angst zu nehmen.«
Melanie überlegte. Erneut schaute sie Mina an, die auf dem Sofa saß und sich nicht bewegte. Sie hielt auch ihren Kopf gesenkt, als wollte sie nichts und niemanden sehen.
»Sie ist so anders!«, flüsterte Melanie.
»Das sehe ich.«
»Ob sie auch essen und trinken muss?«
»Keine Ahnung.« Der Reverend schaute auf seine Uhr. Die Zeit verging ihm viel zu langsam. Er setzte seine Hoffnungen auf diesen John Sinclair und konnte nur die Daumen drücken, dass der Mann es auch pünktlich schaffte. Leider war der Weg recht weit. Er musste quer durch die Stadt fahren, um diesen ländlichen Außenbezirk zu erreichen. Bei dem herrschenden Verkehr war das schon ein zeitliches Problem.
Er dachte auch an die Feinde, vor denen sich Mina fürchtete. Noch hatten sie nichts von ihnen gesehen, und Cecil Davies ging von dem Gedanken aus, dass sie möglicherweise unsichtbar waren. Engel waren in der Regel auch unsichtbar. Mina stellte die große Ausnahme dar, wobei er noch nicht sicher war, dass es sich bei ihr wirklich um einen Himmelsboten, so nannte man die Engel ja, handelte.
Es konnte auch alles ganz anders sein, aber Mina danach zu fragen traute er sich nicht.
Selbst Melanie schien zu spüren, dass ihre Begleiterin in Ruhe gelassen werden wollte. Zwar sah das Mädchen aus, als wollte es die Gestalt auf dem Sofa jeden Moment ansprechen, aber Melanie traute sich nicht recht.
Sie wandte sich wieder an den Geistlichen. »Was kann Mr. Sinclair denn für Mina tun, wenn er kommt?«
»Das weiß ich nicht.«
»Ach.« Melanie schüttelte den Kopf. »Und warum haben Sie ihn dann gerufen?«
»Weil ich hoffe, dass er uns beistehen wird. Wie das genau vor sich gehen soll, kann ich dir leider nicht sagen.«
»Das verstehe ich.«
Der Geistliche deutete auf die leere Tasse. »Soll ich dir noch einen Kakao kochen?«
»Nein, nein. Ich habe genug.«
»Okay. Aber du sagst Bescheid, wenn du etwas möchtest.«
»Klar.«
»Und wann musst du wieder nach Hause?«
»Hm.« Melanie verzog die Mundwinkel. Das Thema schien ihr nicht zu behagen. Sie schaute zum Fenster. Noch war es hell, aber das würde nicht mehr lange so bleiben. Im Monat November brach die Dunkelheit schon sehr früh herein.
»Meine Eltern werden mich abholen. Entweder kommt meine Mutter oder mein Vater. Aber die müssen erst noch Zeit haben. Es kann sein, dass es dann draußen schon dunkel ist. Ist es schlimm, wenn ich hier so lange bei
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