1595 - Die sterbenden Engel
Ihnen warte, Reverend?«
»Nein, überhaupt nicht. Das ist schon okay.«
»Danke.« Melanie war froh, denn sie wollte so lange wie möglich in Minas Nähe bleiben, auch wenn diese sich nicht eben gesprächig zeigte und ihre Sitzhaltung kaum verändert hatte.
Es gefiel Melanie nicht, dass sie sich so verhielt. Wenn Feinde unterwegs waren, dann musste sie sich doch wehren, und das Mädchen wollte Mina Mut machen.
»He, hörst du mich?«
Mina zuckte leicht zusammen, als sie angesprochen wurde. Mehr tat sie nicht.
Melanie drehte ihr Gesicht dem Reverend zu.
»Sie hat Angst«, flüsterte sie. »Ja, das sehe ich. Das ist zu spüren. Mina hat große Angst, dass etwas passiert.«
Als hätte Melanie einen bestimmten Punkt getroffen, hob Mina plötzlich den Kopf. Sie veränderte ihre Haltung und setzte sich kerzengerade hin.
»Was hat sie nur?«, flüsterte Melanie.
»Ich weiß es nicht.« Auch der Geistliche war misstrauisch geworden. Er beobachtete, wie Mina den Kopf anhob und ihn in verschiedene Richtungen drehte. Sie sah so aus, als würde sie etwas suchen, das nur für sie sichtbar war.
»Soll ich sie mal fragen?«
»Nein, lass mal. Sie muss sich erst zurechtfinden. Im Moment sieht sie ziemlich unsicher aus.«
»Gut. Ich warte.«
Mina blieb nicht mehr auf ihrem Platz sitzen. Mit einer ruckartige Bewegung stand sie auf. In ihrem Gesicht hatte sich nichts verändert, und doch machte sie auf Melanie und den Geistlichen einen leicht verstörten Eindruck.
Sie ging die ersten Schritte in die Mitte des kleinen Raumes hinein und drehte sich dann nach rechts, weil sie ein neues Ziel anvisieren wollte. Es war das Fenster, ein für den Raum recht großes Viereck, das einen guten Blick nach draußen bot.
Um die Kirche herum stand nicht viel. Sie war auf einem flachen Hügel gebaut worden. Einige Pappeln wuchsen in der Nähe. Der Wind hatte sie leicht gebogen. Ansonsten war die Umgebung leer. Zum nächsten Ort führte eine schmale Straße, die wie mit dem Lineal gezogen das Gelände durchschnitt.
Warum das kleine Gotteshaus so abseits gebaut worden war, wusste der Reverend nicht. Der Grund dafür lag tief in der Vergangenheit vergraben.
Nicht nur Mina trat an das Fenster heran, auch Cecil Davies ging dorthin.
Er blieb hinter der schmalen Gestalt und veränderte seine Haltung auch nicht, als die Frau vor dem Fenster stehen blieb und nach draußen schaute.
Cecil Davies blickte über ihre Schulter hinweg und sah nichts Außergewöhnliches.
Keine Gefahr. Zumindest nicht auf den ersten Blick.
Die Dämmerung hatte noch nicht eingesetzt. Der graue Himmel zeigte eine geschlossene Wolkendecke. Man konnte sie herbstliche Stille förmlich greifen. Es war diese typische Novemberruhe, die nicht alle Menschen mochten und die deshalb bei nicht wenigen für eine leichte Depression sorgte.
Der Reverend atmete auf, als er keine Menschen sah, die sich der Kirche näherten. Er wollte dies auch Mina zu verstehen geben, als diese sich umdrehte und ihn anschaute.
Es war kein Blick, der den Geistlichen hätte erfreuen können. Dennoch rang er sich ein Lächeln ab. Dabei fragte er: »Alles in Ordnung, Mina?«
»Nein.«
Mit dieser Antwort hatte er nicht gerechnet. Er musste zunächst mal schlucken. Dann wollte er sich nach dem Grund erkundigen, aber Mina kam ihm zuvor.
»Sie sind unterwegs. Sie wollen mich holen. Sie wollen nicht, dass ich fliehe.«
Cecil Davies sah zwar keinen Verfolger, dennoch fragte er: »Von wem sprichst du genau, Mina?«
»Von den Verfolgern. Den schrecklichsten Höllengespenstern.« Sie nickte. »Ja, nur von ihnen. Sie sind es und keine anderen. Sie sind mir auf den Fersen. So wollen mich töten.«
»Und warum?«
»Gewisse Dinge dürfen einfach nicht sein, wie sie sind.«
Mit dieser Antwort konnte der Geistliche nichts anfangen. Auch der Begriff Höllengespenster kam ihm so fremd vor. Noch am gestrigen Tag hätte er darüber gelacht, heute sah es anders aus. Da musste er Dinge begreifen, die er normalerweise ablehnte.
Cecil Davies hatte auch Probleme damit, dass er nichts sah. Es gab keine Verfolger, die auf das Haus zugelaufen wären. In der Umgebung hatte sich nichts verändert.
Mina drehte sich vom Fenster weg. Ihrem Gesicht war nicht anzusehen, was sie dachte.
Als sie einige Schritte gegangen war, stand plötzlich Melanie vor ihr. Sie legte ihr beide Hände auf die Schultern und versuchte sie zu trösten.
»Bitte, Mina, du musst keine Angst haben. Wirklich nicht. Wir sind bei dir.«
Mina dachte
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