160 - Martin, Deborah - Die amerikanische Braut
habe heute noch gar nichts gegessen, Spencer.“
„Wie bitte?“ rief Spencer überrascht. „Warum nicht?“
Die Wut, die sich in Abby angestaut hatte, brach sich nun Bahn. „Dies hier ist ein Frühstück! Niemand hat es für nötig erachtet, mir mitzuteilen, dass es sich in deinen Kreisen ‚schickt’, erst nachmittags zu frühstücken, und ich zuvor noch stundenlang mit Lady Tyndale durch London fahren muss.“
„Oh Abby, du musst ja am Verhungern sein“, sagte Clara.
Abby lächelte schwach. „Ich befinde mich bereits im Delirium.“
„Worauf warten Sie noch, Lord Ravenswood?“ forderte Clara Spencer auf, der Abby ungläubig anstarrte. „Holen Sie Ihrer Frau endlich ein paar Leckereien vom Büfett.“
„Es tut mir Leid, Abby. Mir war nicht bewusst …“
Clara unterbrach Spencer und gab ihm einen kleinen Schubs. „Und Sie sollten es tun, bevor sie ohnmächtig wird.“
„Danke“, murmelte Abby, als Spencer davoneilte.
„Du hättest ruhig schon früher etwas sagen können.“
„Ich wollte meinen Irrtum nicht vor Spencer eingestehen.“
Clara lachte. „Warum denn unfehlbar sein, wenn man stattdessen an das schlechte Gewissen seines fürsorglichen Ehemannes appellieren kann?“ Sie deutete auf Spencer, der jetzt das Büfett plünderte. „Schau ihn dir nur an! Du wirst ihm die Sache noch in zehn Jahren vorhalten können.“
„Oder zumindest bis zur Parlamentspause“, entgegnete Abby trocken.
Clara musterte sie nachdenklich. „Vielleicht täuschst du dich in ihm. Jeder kann sehen, dass ihr zwei zusammengehört. Sogar Morgan findet das.“
Da Spencer zu ihnen zurückkehrte, antwortete Abby nicht. Aber sie ärgerte sich über Claras Versuch, sie für Spencer einzunehmen. Wenn er seine Meinung ändern sollte und sich dazu herabließe, sie zur Frau zu nehmen, würde sie sein Angebot ablehnen. So verzweifelt war ihre Lage noch nicht!
Allerdings gerieten ihre Vorsätze ins Wanken, wenn er sich so besorgt um sie zeigte … Lächelnd reichte er ihr eine Gabel und einen vollgeladenen Teller.
Abby stürzte sich sofort auf das Einzige, was ihr bekannt vorkam – eine kleine Fleischpastete –, und biss erleichtert hinein. Sie seufzte. War das köstlich!
„Ich habe dir etwas von den homards à gratin, der gelinotte und den epinards à l’essence geholt. Und was du gerade isst, ist la veau en croute. Ich hoffe, du magst alles.“
„Alles“, versicherte sie ihm zwischen zwei Bissen.
Abby wusste immer noch nicht, was sie auf ihrem Teller hatte, aber da die Viscountess Ravenswood die französische Sprache natürlich fließend beherrschte, fragte sie nicht nach.
Spencer blickte sie argwöhnisch an. „Das Faible, das wir Engländer für alles Französische haben, ist sicher ungewohnt für dich.“
„Überhaupt nicht“, beteuerte sie und überlegte, ob sie als Nächstes den kleinen grünen Klacks probieren sollte.
Natürlich hielt sie die Engländer für etwas seltsam, weil sie Räucherschinken le jambon ä la brocke nannten und ganz unglaubliche Saucen über ihre Lammkeulen und Rinderfilets gossen, nur damit sie „französisch“ schmeckten. Abby Mercer hätte sich zu dieser Bemerkung hinreißen lassen – nicht jedoch die Viscountess Ravenswood, der nichts fremd war, was sich schickte oder schick war …
Als könnte er ihre Gedanken lesen, fuhr Spencer unbeirrt fort: „Es mutet vor allem deshalb seltsam an, da England gerade erst einen Krieg gegen Frankreich gewonnen hat. Spitze Zungen behaupten ja, dass eigentlich Frankreich den Krieg gewonnen hätte.“
Clara, die Abby aufmerksam beobachtet hatte, mischte sich nun auch ins Gespräch: „Vor allem gibt es diese Unsitte, dass Damen der Gesellschaft nur französische Zofen anstellen wollen. Und wenn sie sich das nicht leisten können, verlangen sie von ihrem englischen Dienstmädchen, dass es sich als Französin ausgibt!“
„Findest du das nicht albern, Abby?“ Spencer sah sie herausfordernd an.
Abby betupfte sich mit einer Serviette die Lippen. Sie fand es mehr als albern. Aber sie hatte sich nicht eine Woche lang bemüht, ihre eigenen, zweifelsohne unschicklichen Ansichten zurückzuhalten, um nun den Effekt neu erworbener Eleganz wieder zu zerstören. „Eine französische Zofe hat einfach mehr Fingerspitzengefühl“, sagte sie stattdessen. „Und warum sollte man nicht auch bei der Wahl seines Personals auf die feinen Unterschiede achten?“
„Ja, warum eigentlich nicht“, schnaubte Spencer.
Clara schaute ihn besorgt an.
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