1600 - Willkommen im Hades
Eichler vermeinte, einen jammernden Laut zu hören, war sich jedoch nicht sicher.
Zwei Sekunden später schaute sie zu, wie sich der Kopf vom Körper löste und wie ein hart getretener Ball davonflog. Er landete im Schnee, rutschte noch weiter, blieb dann liegen, und der Mann holte zu einem neuen Schlag aus.
Das Ziel der Klinge war der kopflose Körper, der wenig später aus zwei Hälften bestand.
Lisa Eichler hörte das harte Lachen, das so siegessicher klang. Sie sah sich noch immer nicht in der Lage, etwas zu kommentieren. Ihre Stimme war ihr im Hals stecken geblieben.
Der Vorgang war immer noch nicht beendet.
Ein Kopf und zwei Körperhälften lagen auf dem Schneeboden. Trotzdem geschah etwas mit ihnen.
Sie fingen plötzlich Feuer. Woher die Flammen kamen, wusste Lisa Eichler nicht. Für sie war wichtig, dass sie existierten, und sie breiteten sich blitzschnell über die drei Körperteile aus.
Ein eklig stinkender schwarzer Rauch löste sich und stieg in die Höhe.
Die Flammen hatten sich zurückgezogen. Im kalten Schnee glühten die Reste des Monsters aus.
Lisa konnte nicht mehr. Sie fing an zu schluchzen. Ihr Körper wurde regelrecht durchgeschüttelt. Die Erleichterung hatte sie so reagieren lassen.
Tränen verschleierten ihren Blick.
Sie saß im Schnee wie ein kleines Kind, das man vergessen hatte. Aber sie brauchte das Weinen, nur so konnte sich die Anspannung in ihr lösen.
Irgendwann wischte sie mit den eiskalt gewordenen Händen über ihr Gesicht.
Dabei hörte sie das Knirschen der Schritte im Schnee, hob den Kopf und sah ihren Retter als verschwommene Gestalt vor sich stehen.
Um ihn einigermaßen zu erkennen, musste sie erst ihre Augen frei wischen. Dann klappte es besser.
Ein sehr großer Mann stand vor ihr. Sie schaute in ein kantiges Gesicht, in dem besonders die Augen auffielen. Der offene Mantel der Gestalt war mit Schneeflocken bedeckt. Sie klebten auch in den pechschwarzen, lockigen und lang gewachsenen Haaren.
Die Gestalt beugte sich nach vorn. Auf ihren Lippen erschien ein weiches Lächeln. Sie streckte den linken Arm aus. Sanft strich die Hand über die Wange der Frau hinweg.
Lisa Eichler empfand die Berührung als weich, warm und wunderbar angenehm. Beinahe automatisch schloss sie die Augen, um diese Berührung so lange wie möglich zu genießen.
Sehr schnell hörte sie auf.
Aber Lisa blieb mit geschlossenen Augen im Schnee sitzen. Sie wartete darauf, dass ihr Retter sie noch einmal berührte, aber da hatte sie sich getäuscht.
Sie öffnete die Augen wieder.
Er war nicht mehr da. Sie saß allein im Schnee, und die Flocken hatten bereits eine Haube auf ihrem Haar gebildet. Die Haut in ihrem Gesicht war ebenso kalt wie die der Hände. Das störte Lisa nicht weiter. Sie konnte nicht anders und musste einfach sprechen.
»Wer bist du?«
Niemand war da, der ihr eine Antwort hätte geben können. Die suchte sie bei sich selbst.
»Bist du ein Engel? Einer, der in der Weihnachtszeit kommt und Menschen beschützt?« So recht daran glauben konnte sie nicht, obwohl Lisa zu den Menschen gehörte, die die Existenz der Engel nicht abstritten. Es musste sie einfach geben. Zumindest für den, der daran glaubte. Nicht umsonst wurden die Engel in vielen Liedern besungen und auch in den entsprechenden Geschichten erwähnt.
Wie von selbst faltete sie ihre kalten Hände. Sie flüsterte kein richtiges Gebet, sondern einfach nur das, was ihr in diesem Moment einfiel. Echte und ehrliche Worte.
Lisa verstummte erst, als sie sich zur Seite drehte, um aufzustehen.
Es war für sie nicht ganz einfach. Sie taumelte schon bei der ersten Bewegung, aber dann schaffte sie es schließlich, und sie blieb stehen, den Blick gegen ihren Smart gerichtet, als wollte ihr dieser sagen: Komm, steig ein.
Jetzt merkte sie, dass der Fall nicht ohne Folgen geblieben war. Einige Knochen taten ihr weh. Und ihr Gehen glich mehr einem Schlurfen. Ihre Schuhe wühlten den Schnee hoch, und sie war froh, als sie sich am Dach des Autos abstützen konnte.
Mit einem scharfen Geräusch zischte der Atem aus ihrem Mund. Sie fühlte sich noch immer nicht okay. Ihre Beine zitterten. Die Hüfte tat ihr weh. Nahe der rechten Schulter spürte sie Stiche, aber ihre Arme konnte sie bewegen.
Der Schneefall hörte nicht auf. Flocke für Flocke sank dem Boden entgegen und sorgte dafür, dass die weiße Schicht noch dicker wurde.
Wenn am anderen Morgen die Sonne aufging, würde sich dem Betrachter ein märchenhaftes Bild bieten. Eine
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