1601 - Die wilde Schlacht
beim ersten Hinschauen konnte ich über diese Erscheinung nur den Kopf schütteln. Sie ragte bis zur Körpermitte über die Brüstung hinweg.
Ich hatte Probleme damit, sie einzuschätzen.
War sie ein Mensch?
Der Form nach schon. Nur war nicht zu erkennen, ob es sich bei ihr um eine Frau oder einen Mann handelte. Alles an ihr war glatt, und ob Haare auf dem Kopf wuchsen, sah ich ebenfalls nicht. Wenn, dann mussten sie sehr flach nach hinten gekämmt sein.
Eine ungewöhnliche Haut, zu dem die ungewöhnliche Farbe passte.
Dunkel und glänzend, beinahe wie poliert. Zwei Farben - grau und blau mischten sich, und mir schoss durch den Kopf, dass so kein Mensch aussah.
»Wer ist das, John?«, hauchte Anna mit zittriger Stimme. »Das - das - ist kein Monster.«
»Bestimmt nicht.«
»Und was dann?«
»Sie gehören alle zusammen, Anna. Er oder es ist unser Feind.«
»Aber kein Engel - oder?«
Es war mir nicht möglich, ihr eine korrekte Antwort zu geben. So weit durfte man die Vermutung auf keinen Fall beiseite schieben, es war alles möglich, denn Engel gab es in den verschiedensten Gestalten, und sie waren nicht immer lieb und nett.
Von der Kanzel her starrte mich die Gestalt an. Beide Hände lagen auf dem Rand, und das war mir lieb. Es deutete nichts auf einen ersten Angriff hin, so blieb mir die Zeit, an mein Kreuz zu gelangen, das noch immer seine Warnung abstrahlte.
Ich zog es hervor. Plötzlich lag es offen in meiner Hand, und es gab das Strahlen ab.
Auf der Kanzel entstand eine wilde Bewegung. Ich hörte den Schrei, dann hielt die Gestalt nichts mehr. Sie wollte weg, sie kam auch weg, aber sie nahm nicht die normale Treppe. Sie kippte einfach über die Brüstung hinweg.
Sie hätte auf den Boden schlagen müssen, was nicht eintrat. Bevor sie aufprallte, erhielt sie den nötigen Schwung und drückte ihren Oberkörper in die Höhe.
Für mich stand endgültig fest, dass ich es nicht mit einem normalen Menschen zu tun hatte. Ich ging mehr von einem Engel ohne Flügel aus, der seinen Weg in die Höhe fand, als wollte er seinen Platz an der Kirchendecke einnehmen.
Ich verfolgte ihn auf dem Weg dorthin. Die Gestalt war bei ihrem Flug auch in die Nähe meines Kreuzes gelangt. Sie musste etwas von der anderen Kraft gespürt haben, und das war für sie nicht gut.
Der fremde Engel geriet bis in die Nähe der Decke, als seine flüssigen Bewegungen stockten. Eine Hand klatschte noch gegen den Widerstand über ihm, das war auch alles. Ein Zucken rann durch den Körper, der jetzt der Erdanziehung folgen musste.
Einige zuckende Bewegungen, ein fremder, künstlicher und auch schriller Schrei, dann fiel die Gestalt herab.
Diesmal konnte sie sich nicht mehr fangen. Zwar krümmte sie ihren Körper noch, aber das half ihr nichts. Dicht neben der Kirchenbank schlug sie wuchtig auf den Steinboden. Ich hatte sogar noch den Eindruck, ein Brechen von Knochen zu hören.
Dann war es still!
Aus dem Augenwinkel bemerkte ich, dass Anna sich in Bewegung setzen wollte. Mit einer scharfen Bemerkung hielt ich sie zurück. Ich wusste nicht, ob die Gestalt tatsächlich außer Gefecht gesetzt worden war.
Sie lag verkrümmt auf dem Boden. Ich bewegte mich quer durch eine Sitzreihe auf sie zu und atmete auf, als ich keine Bewegung wahrnahm.
Als ich die Reihe verließ, bückte ich mich, nachdem ich mich zuvor davon überzeugt hatte, dass Anna einen gebührenden Abstand einhielt.
Dann ging ich den letzten Schritt. Er brachte mich in die unmittelbare Nähe dieser fremden und so kalt wirkenden Gestalt, die ich genauer unter die Lupe nehmen wollte.
Das Kreuz gab mir den nötigen Schutz. Seine Wärme wirkte auf meiner Hand beruhigend.
Ich war gespannt. Man durfte die Helfer der Hölle nicht unterschätzen.
Durch mein Bücken geriet auch das Kreuz näher an die Gestalt heran.
Das Gesicht war durch die Lage etwas verdeckt. Flügel sah ich keine auf dem Rücken, die waren nicht nötig, um fliegen zu können.
Plötzlich zuckte der Körper in die Höhe. Weit kam er nicht, denn das Kreuz handelte von allein.
Nicht ich stand plötzlich im Licht, nur die Gestalt vor mir. Und es hatte bei ihr eine zerstörerische Wirkung. Es fraß den Körper nicht auf, es sorgte nur für eine Veränderung, denn vor meinen Augen fror er ein.
Es kam mir vor wie ein kleines Wunder, als über seine Gestalt eine zweite Schicht zu sehen war, die ein eisiges Schimmern abgab.
Eigentlich hatte ich damit gerechnet, dass sich die Gestalt auflösen würde. Nein, das
Weitere Kostenlose Bücher