1603 - Der Geistertänzer
gegen uns einsetzen würde, war noch fraglich. Bisher jedenfalls hatten wir davon nichts mitbekommen, aber er würde sich auch nicht auf der Nase herumtanzen lassen, so viel stand auch fest.
Egal, Isabel musste von hier verschwinden. Wenn sie nicht freiwillig ging, musste ich Gewalt anwenden. Sie wusste nicht, dass die andere Seite keine Gnade kannte, wenn es um ihre Interessen ging. Es war auch keine Zeit, ihr das zu erklären.
Da sprach Suko mich an.
»Dreh dich um, John!«
Er musste seine Gründe haben, um so zu reagieren. Also tat ich ihm den Gefallen.
Jetzt schaute ich wieder in den Spiegel. Zumindest sah es so aus, aber von der spiegelnden Fläche war nichts mehr zu sehen. Die schwarze, sich bewegende und in sich rollende Wand bedeckte sie. Es war der echte Spuk, dieses amorphe Wesen, der Letzte der Großen Alten, so etwas wie ein Wächter und einer, der die Seelen der getöteten Dämonen an sich riss, um sein Reich zu vergrößern.
Aber inmitten der Schwärze sah ich zwei rote Punkte. Sie kamen mir wie Höllenaugen vor, die mich aus dieser mörderischen Welt hervor anglotzten.
Das war nicht die Welt des Teufels. Sie war zwar auch böse, nur reagierte hier das amorphe Wesen, der Spuk, den ich kannte, und der mich ebenfalls kannte.
»John Sinclair…«
Was das seine Stimme? Konnte er überhaupt reden wie ein Mensch? Ja, es war seine Stimme, und ich grübelte nicht länger darüber nach, warum er so sprechen konnte. Das war mir zudem nicht neu.
»Ja, ich bin es. Mal wieder«, sagte ich.
»Und was willst du?«
»Am liebsten den Würfel des Unheils.«
»Rede keinen Quatsch.«
»Gut, dann sage ich dir, was ich wirklich will. Ich will die Frau hier haben.«
»Das dachte ich mir.«
»Und?«
»Du kannst sie dir nehmen.«
Ich hätte sofort reagieren können, tat es allerdings nicht, denn ich dachte darüber nach, ob das Angebot ehrlich gemeint war oder nicht. Allerdings konnte ich mir bei dem Spuk keinen Grund vorstellen, diese menschliche Person in sein Reich zu ziehen und sie dem Grauen der Dämonenseelen zu überlassen.
»Hast du mich nicht gehört?«, klang es drohend aus der tiefschwarzen Wolke.
»Ja, schon.«
»Dann handele. Nimm sie dir.«
»Nein!« Der Frauenschrei ließ mich zusammenzucken. »Ich gehe nicht, ohne zu wissen, was mit Julius passiert!«
»Er ist kein Mensch mehr!«, rief Suko ihr zu.
»Trotzdem! Auch er hat ein Recht auf seine ewige Ruhe.« Sie stampfte wütend mit dem linken Fuß auf.
Jetzt wurde es kritisch. War der Spuk bereit, einen weiteren Kompromiss einzugehen?
So recht glaubte ich nicht daran, und er würde seine Gründe haben, den Geistertänzer so zu behandeln, wie er es seiner Meinung nach verdient hatte.
»Ich bin kein Mensch!«, drang seine Stimme aus dem Finstern hervor.
»Die Frau gebe ich euch. Den Mann nicht. Er hat es nicht verdient. Er hat jemanden getötet, der sich auf meine Seite gestellt hatte. Deshalb wird er seine Strafe bekommen.«
Ich wollte noch einen Versuch starten, doch es war zu spät. Plötzlich wirbelte die Gestalt des Geistertänzers vom Boden hoch. Sie wurde bis gegen die nicht mehr zu erkennende Decke getrieben, und dabei schluckte ihn die Finsternis wie ein riesiges Maul.
»Julius…!« Es war ein Schrei der Verzweiflung, der aus der Kehle der Frau drang. Sie konnte nichts mehr tun. Sie fiel auf die Knie und reckte ihre Hände gegen die Decke. Es war ein Flehen, das nichts brachte. Der Spuk hatte einen Kompromiss geschlossen, indem er sie am Leben gelassen hatte. Einen zweiten konnte ihm niemand abringen.
Er zog sich zurück. Er nahm die Schwärze mit, in dem jetzt jemand steckte, der für eine Tat büßen sollte, von der ich nichts wusste.
Die kalte Finsternis zog sich wieder zurück. Sie dampfte regelrecht in den Spiegel hinein und verschwand.
Zurück blieben Isabel, Suko und ich.
Und wir wussten nicht, ob wir uns als Gewinner fühlen durften. Aber auch nicht als Verlierer.
Manchmal ist das Leben wie ein Fußballspiel. Da muss man sich auch mal mit einem Unentschieden zufrieden geben…
ENDE
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