1605 - Blutnacht - Liebesnacht
gewisse Zeit in Anspruch. Wenn sie aus diesem Schlaf erwachte, dann sah sie zwar weiterhin aus wie ein Mensch, aber sie war keiner mehr. Dann war sie eine Wiedergängerin, die auf der Suche nach Menschenblut war, das ihr ein Weiterleben garantieren würde.
»Das war er, Harry!«
»Ja. Wie heißt er noch gleich?«
»Darius.«
»Genau. Und wir müssen davon ausgehen, dass sich dieser Darius möglicherweise in der Nähe aufhält. Er wird abwarten, bis seine Braut erwacht, und sich dann mit ihr zurückziehen.«
»Dazu wirst du es doch nicht kommen lassen, oder?«
»Nein, Dagmar. Es gibt nur eine Möglichkeit für uns. Wir müssen deine Freundin Anne erlösen.«
Dagmar sagte nichts. Sie kniete im Schnee und nickte mit geschlossenem Mund. Harry hatte recht. Aber es war grausam, was jetzt vor ihnen lag. Sie würde es nicht tun. Das konnte sie nicht. Und sie wollte auch nicht zuschauen, wenn ihr Freund Harry es tat. Dessen Gesicht sah sehr kantig aus. Als wären seine Züge in Stein gemeißelt worden.
»Es tut mir leid«, flüsterte er. »Aber es geht nicht anders.«
»Ich weiß.«
Harry holte seine Pistole hervor. Es war eine mit geweihten Silberkugeln geladene Waffe. Das hatte er sich von seinem englischen Freund John Sinclair abgeschaut, der ebenfalls so bewaffnet war.
»Warte noch einen Moment. Ich kann da nicht hinschauen.«
»Ist schon okay.«
Dagmar Hansen rutschte im Schnee zur Seite. Sie spürte die Tränen über ihre Wangen laufen und hatte das Gefühl, dass sie irgendwann zu Eisperlen werden würden.
Nur nicht hinsehen. Es war schon schlimm genug, wenn sie den Schuss hören würde. Deshalb drehte sie auch den Kopf.
Da war die Bewegung!
Ein Schatten, mehr nicht.
Sie glaubte erst an eine Täuschung, weil ihre Augen in Tränenwasser schwammen, aber einen Moment später hörte sie den scharfen Zischlaut und auch das Knirschen im Schnee.
Die dunkle Gestalt war ganz in ihrer Nähe und jetzt bei Harry.
Sie schrie dessen Namen, Harry zuckte herum - und genau in einen mörderischen Schlag hinein, der ihn regelrecht fällte…
***
Harry Stahl lag leblos im Schnee. Aus einer Kopfwunde sickerte Blut.
Neben ihm und auch neben Anne Höller stand der Vampir, der sich klassisch zeigte.
Der dunkle Mantel, das bleiche Gesicht, der offene Mund mit den beiden sichtbaren Vampirzähnen.
Dagmar Hansen konnte das widerliche und triumphierende Grinsen erkennen, weil die Lampe noch brannte und ihr kaltes Licht abgab.
Dagmar wusste nicht, ob sich der Vampir an Anne Höller satt getrunken hatte. Wenn er noch durstig war, hatte sie schlechte Karten. Aber sie hatte nicht vor, sich kampflos zu ergeben. Noch lag Harry nicht zu weit von ihr entfernt, und seine Waffe hatte er bereits gezogen. Er hielt sie noch mit den starren Fingern der rechten Hand umklammert.
Ihre Reaktion war kaum vom Kopf gesteuert. Dagmar warf sich vor und riss Harrys Pistole an sich. Der Vampir stand nahe genug, sodass sie kaum vorbeischießen konnte.
»Dann fahr zur Hölle!«, brüllte sie ihn an - und erhielt einen brettharten Treffer gegen ihre rechte Hand.
Die Faust öffnete sich automatisch. Die Pistole flog davon und landete irgendwo im Schnee. Sie selbst flog auch zurück. Ihr Gesicht drückte den Schnee ein. Für einen Moment hatte sie die Orientierung verloren, und ihr wurde klar, dass sie nicht mehr bewaffnet war.
Jetzt hatte der Vampir freie Bahn. Sie versuchte sich darauf einzurichten.
Es war so gut wie unmöglich, sich gegen einen derartigen Gegner mit bloßen Händen zu verteidigen. Da zog sie immer den Kürzeren. Jetzt wäre die Flucht am besten gewesen, doch sie konnte und wollte Harry nicht zurücklassen.
Wie viel Zeit vergangen war, wusste sie nicht, als sie sich aufrichtete. Eigentlich hätte der Blutsauger sich jetzt auf sie stürzen müssen, was seltsamerweise nicht geschah, und so richtete sie sich auf.
Er war noch da.
Aber er war beschäftigt. Er bückte sich und zerrte eine Person vom Boden hoch, die er dann über seine linke Schulter schleuderte. Es war nicht Harry.
Der Vampir wollte nicht auf seine neue Braut verzichten, und so hatte er sich Anne Höller geschnappt.
Dagmar gönnte er nicht einen Blick. Mit seiner Beute drehte er sich um und lief davon. Seine Füße warfen den Schnee in die Höhe, der in winzigen Kristallen und kleineren Eisbrocken vor ihm hoch wirbelte und seinen Fluchtweg begleitete.
Ja, er floh.
Dagmar saß auf der kalten Erde und konnte es kaum fassen. Sie fühlte sich wie vor den Kopf
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