1610 01 - Der letzte Alchimist
entspannt. Wäre er ein Europäer gewesen, hätte ich von ihm gedacht, dass er einem Kampf so fern war wie dem Mond. Da ich mich jedoch an den Strand in der Normandie erinnerte, wusste ich auch, wie schnell er von absoluter Ruhe in den Angriff übergehen konnte. Auch dort war er vor dem Aufeinandertreffen genauso entspannt gewesen wie jetzt.
Normalerweise hätte ich Saburo zurückhaltend die Hand auf den Arm gelegt, doch in seinem Fall hielt ich das für unklug. »Überlasst es ihr, das zu regeln.«
»Holt – meinen – Vetter!«, bellte Dariole mit gesenktem Kopf wie ein wütender Stier. Beim letzten Wort klang ihre Stimme hoch und schrill. Sie ballte die Fäuste, bewegte die Hände aber nicht zu ihren Waffen. »Ihr seid Diener – cochon ! Macht, dass ihr mir aus dem Weg kommt!«
Selbst aus zehn Schritt Entfernung sah ich, wie ihr Gesicht von Schweiß schimmerte. In Paris hätte sie schon längst das Rapier gezogen. Und sie hätte nicht die Beherrschung verloren. Hier war das jedoch anders; sie war vollkommen außer sich.
Warum kämpft sie nicht?
Plötzlich wusste ich es. Sie hat vergessen, wer sie ist.
Was sie jetzt ist, ist nicht das, was sie war, als sie zum letzten Mal hier gewesen ist, als Kind …
»Vetter Guillaume!«, rief Dariole, hob den Kopf und starrte zum ersten Stock hinauf. »William! Ich bin es! Arcadie! Theresas Kind! Komm herunter!«
Ihr Körper war zwischen Mann und Frau gefangen. Es überraschte mich nicht, dass die drei Diener lachten. Sie mussten sie (wie ich es getan hatte) als etwas schier unglaublich Hässliches betrachten: eine Mischung aus weibischem Jungen und einem Ackergaul von Mädchen.
Sie bellte: »Komm herunter!«
Die schwere Eichentür öffnete sich erneut. Ich legte die Hand aufs Rapier. Ein weiterer Mann kam heraus.
An seinem flaschengrünen Satinwams und dem feinen Spitzenkragen erkannte ich, dass es sich dabei um den Herrn des Hauses handeln musste. Zuerst schaute er Dariole nicht an, dann jedoch schnippte er mit den Fingern nach dem stämmigen Diener.
»Thomas, was geht hier vor?«
Der Mann blickte sofort reumütig drein. »Verzeiht, Herr. Wir haben nur ein wenig Spaß.«
»Dann habt euren Spaß leise und nicht vor meiner Haustür!«
»Verzeiht, Herr.« Der Diener senkte den Kopf und drehte sich wieder zu Dariole um.
Ich spannte die Muskeln an und wartete auf den Beginn des Kampfes. Doch sie zog das Schwert einfach nicht! Sie starrte den Mann in Grün nur an.
»Vetter Guillaume?«
In klarem Londoner Englisch erwiderte der Mann: »Und Ihr seid …?«
»Arcadie de la Roncière.« Mit ihren Schultern veränderte sich ihre Haltung. War sie entmutigt? Verwirrt? »Du musst dich doch erinnern! Ich war mit Maman hier. Ich war damals fünf Jahre alt …«
»›Arcadie‹ ist kein Jungenname.« Der Engländer war älter, als er in dem Satin aussah. Sein spitz zugeschnittener Bart war haselnussbraun gefärbt. Er trug kein Schwert und auch keinen Knüppel am Gürtel wie seine Diener. Er war ein ordentlicher Bürger, der in Frieden in seinem Haus lebte, einem Frieden, der nun gestört wurde durch … Ja, durch was eigentlich? Ich vermutete, dass er sich genau das fragte.
Der Schatten der Giebel reichte nicht aus, um mich ihrer Aufmerksamkeit zu entziehen. Dazu bedurfte es auch noch – das hatte mich die Erfahrung gelehrt – vollkommenes Stillsein. Überrascht bemerkte ich, dass auch der Mann aus Nihon sich nicht rührte.
»›Arcadie‹.« Die Stimme des Engländers klang ironisch. »Und deine Diener sind … wo?«
Die junge Frau senkte wieder den Kopf. Ich verspannte mich abermals für den Fall, dass sie in unsere Richtung blickte. Dann sah ich es ihr an ihren Schultern und dem steifen Rücken an: Sie hatte uns vergessen. Sie hatte alles vergessen außer dem Mann vor ihr.
»Ich habe keine Diener bei mir.«
»Und Gepäck?«
»Nein, auch kein Gepäck!«
»Und … Lass mich raten … Du benötigst meine Gastfreundschaft und einen winzigen Kredit, ja?«
Ich stieß einen leisen Fluch aus. Ich wusste nicht, ob ich wütend sein oder diesem Mann ob seiner Klugheit applaudieren sollte. Er ließ sich nicht so einfach hintergehen.
Der Mann verschränkte die Arme vor der Brust. Ich sah, wie Dariole den Mund öffnete und wieder schloss, ohne etwas gesagt zu haben.
»Thomas, kümmere dich darum.« William Markham machte auf dem Absatz kehrt und ging wieder ins Haus zurück. Die Eichentür schloss sich hinter ihm.
Ich richtete meine Aufmerksamkeit nur für den
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