1610 01 - Der letzte Alchimist
eigentlich?
Beunruhigend war jedoch, dass Messire Saburo mein Handeln keineswegs in Frage stellte.
Instinktiv wandte ich mich in Richtung Süden durch die verschlungenen Gassen zur Themse. Ich blickte auf Arcadie-Fleurimonde-Henriette de Montargis de la Roncière in meinen Armen. Sie war ein heißes, nasses, schweres Bündel. Ihr trocknendes Haar hätte genauso gut mit einfachem Schlamm verklebt sein können, wäre da nicht der Übelkeit erregende Gestank gewesen. Gelbbraune Exkremente waren durch ihr Wams gedrungen – und durch meins.
Die ganze Vorderseite meines roten Samtwamses, das ich eigentlich angezogen hatte, um bei Darioles englischen Verwandten einen guten Eindruck zu hinterlassen, war voller Scheiße. Auch meine Manschetten und der Kragen waren verdreckt, und wo sie mit dem Kopf auf meiner Brust lag, bekam ich auch Scheiße in die Haare.
Sie konnte sich nicht bewegen, so fest hielt ich sie, aber sie versuchte es auch gar nicht. Sie hatte den Kopf nach vorn gelegt, sodass ich nicht sehen konnte, ob sie weinte oder nicht. Ihr Atem fühlte sich matt an.
Natürlich könnte ich mich jetzt an ihrem Leid weiden.
Die Scheide baumelte leer an ihrem Wehrgehänge, an zwei Stellen gebrochen. Nur die Lederumhüllung hielt sie noch zusammen. Ich warf einen Blick zu Saburo, der neben mir ging. Er hielt Darioles Rapier und Dolch in der Hand.
»Kitsune«, grunzte er. »Ihr hättet sie nicht allein lassen sollen.«
»Unsinn!«
Dariole schien nichts von alledem mitzubekommen. Ihr schwaches Zittern verriet mir, dass sie vollkommen in der Demütigung verloren war. Und ich machte mir nicht die Mühe, über die Wirkung nachzudenken, die die Worte des Samurais auf mich hatten. Jetzt halte ich sie in meinen Armen.
Der Gestank ließ mich würgen. Fliegen schwirrten um mich herum. Sie waren früh dran, und sie hatten richtig gerochen. Die Frühlingssonne brachte den Gestank der Scheiße deutlich hervor. Ich spürte, wie die junge Frau plötzlich in meinen Armen schauderte. Schmerz? Scham? Oder war sie einfach nur wütend darüber, von Monsieur Rochefort getragen zu werden, ohne etwas dagegen tun zu können?
»Gibt es hier öffentliche Badehäuser?«, erkundigte sich Saburo.
»Nicht innerhalb der Stadt – jedenfalls nicht mehr, seit die Syphilis sich so weit verbreitet hat.«
Das Gesicht des Nihonesen mochte ja fremd sein, doch seine Abscheu war ihm mehr als deutlich anzusehen. »Wo waschen wir uns dann?«
Vor uns erhoben sich die Dächer nicht mehr so dicht beieinander. Es freute mich, dass mein Orientierungssinn mich nicht im Stich gelassen hatte, zumal ich zum letzten Mal gut sechs Jahre zuvor in London gewesen war.
»Dort.« Ich sah eine schmale Gasse zwischen zwei Häusern und dahinter das Glitzern von Wasser. »Der Fluss.«
Saburo grunzte wieder. »Wenn ihre Verwandten sie abweisen, hat sie das Recht, wütend zu sein. Es jedoch so zu zeigen … Das ist die Dummheit der Jugend.«
Die hic mulier war nicht leicht in meinen Armen. Ich verstärkte meinen Griff, als ich sie durch die Gasse trug.
Saburo fügte hinzu: »Ein weiser Mann würde schweigen – und heute Nacht wieder zurückkehren, das Haus niederbrennen und nicht erwischt werden.«
Wieder fiel mir diese unvorhersehbare Mischung aus Ehrgefühl und Pragmatismus auf, die ihm zueigen war. Aus Gewohnheit und Müdigkeit sprach ich Französisch, aber das war wohl auch ganz gut so. »Irgendwo weit, weit im Osten gibt es ein ganzes Land mit Männern wie dir … Gütiger Gott!«
Wir erreichten das Flussufer. Ein alter Kai war fast völlig zusammengebrochen und in den Fluss gestürzt. Stützbalken ragten aus dem Wasser zwischen dem, was von dem Steg noch übrig war. Fische schossen dicht unter der Wasseroberfläche vorbei. Ich sah sie durch die zerbrochenen Bretter hindurch, als ich auf den Kai hinausging.
»Verzeiht mir, Mademoiselle.« Mein Herz schlug gegen meine Rippen, als ich mich so an sie wandte; ich vermochte nicht zu sagen, woher diese plötzliche Sorge kam.
Mit belegter Stimme murmelte sie: »Leck mich, Rochefort.«
Sie war ein träges Gewicht in meinen Armen, nass, verdreckt, und sie sonderte einen schier unglaublichen Gestank ab. Ihr Kopf blieb von mir abgewandt. Ich wusste nicht, ob sie zum Fluss blickte, zu den Booten, den Häusern. Breitbeinig stellte ich mich auf den zerstörten Kai und nutzte meine Kraft, um Mademoiselle Dariole über den Fluss zu halten.
Dann ließ ich los.
Sie fiel wie ein Stein.
»Rochefort …!«
Ich wandte mich von
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