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1610 01 - Der letzte Alchimist

1610 01 - Der letzte Alchimist

Titel: 1610 01 - Der letzte Alchimist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Gentle
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sie ihr Rapier auf dem Boden hatte liegen lassen, verriet mir, wie nah sie der Hysterie wirklich war.
    Sie wirkte geradezu winzig vor der großen Tür. Ich beobachtete, wie sie dagegen hämmerte. Mademoiselle Dariole: über und über mit Schleim bedeckt. Ihr Leinenwams war braun vom Saum bis zum Kragen, und ihre venezianische Hose war vollkommen durchnässt und klebte an ihren Beinen.
    Selbst von hier kann ich riechen, wie sehr sie stinkt.
    Der Morgenregen hatte den Straßenkanal zu einem Fluss anschwellen lassen, einem Fluss voll unidentifizierbarer, fester Klumpen, vielleicht so tief, wie der Arm eines Mannes lang ist. Mademoiselle Dariole war von Kopf bis Fuß voll Scheiße. Spritzer flogen aus ihrem nassen Haar, während sie schrie und weiter auf die Tür eindrosch.
    Kurz öffnete sich ein Fenster über ihrem Kopf, und begleitet von einem lauten, männlichen Lachen ergoss sich der Inhalt eines Nachttopfes auf die Pflastersteine.
    Sie werden wieder herauskommen und sie zum Schweigen bringen.
    Ich beobachtete, wie sie vor Wut in Tränen ausbrach. Ist es wirklich so leicht, sie fertig zu machen?, fragte ich mich. Und warum habe ich das selbst nicht gekonnt?
    Ihr Hut lag im Dreck. Ein kräftiger Tritt hatte ihn unwiderruflich aus der Form gebracht. Das Schwert steckte vergessen im Schlamm. Es wird rasch poliert werden müssen, wenn es nicht rosten soll.
    Saburo rückte den Stoffgürtel unter seinem Mantel zurecht. Ich schüttelte den Kopf.
    »Wartet.«
    »Auf was?«
    Darauf, dass ich mich an dem Spektakel sattgesehen habe. Natürlich sagte ich das nicht laut. Der Nihonese blickte mich aus den Augenwinkeln heraus an.
    »Es werden Männer kommen und uns sehen«, protestierte er.
    Ich war mir bei weitem nicht sicher, ob er das wirklich gerade gedacht hatte. Allerdings sah ich tatsächlich zwei Lehrlinge an der Straßenecke stehen bleiben und zu dem über und über mit Scheiße beschmierten Jüngling blicken, der wie von Sinnen gegen eine Tür hämmerte. Und London verfügte über eine Stadtwache.
    »Giri«, bemerkte Saburo mit rauer Stimme und setzte sich in Bewegung.
    Pflicht? Ehre? Irgendetwas in der Art bedeutete das wohl. Wie es scheint, ist er niemand, der seine Schulden vergisst. Ich hielt kurz inne, unschlüssig, was ich tun sollte.
    Wenn er ein, zwei Köpfe abschlägt, erregen wir peinlich viel Aufmerksamkeit …
    Dariole schlug mit der flachen linken Hand auf die schwere Tür, so hart, dass es wehtun musste. Nasse Handabdrücke blieben auf dem Holz zurück. In der rechten hielt sie noch immer den Dolch, dessen Knauf inzwischen Dellen in der Maserung hinterlassen hatte. Mit gebrochener Stimme rief sie: »Aufmachen! Macht die verdammte Tür auf!«
    Ihr Englisch hatte sie vergessen. Sie rief in wütendem Französisch und noch dazu im miesesten Pariser Dialekt. Die Tränen rannen ihr über die Wangen; sie hatte vollkommen die Beherrschung und alle Würde verloren.
    Ich lächelte schief.
    In Wahrheit war es so, wie sie gesagt hatte: Ich hätte die Nachtstunden auf der St Willibrod nutzen sollen, um ihr und Saburo die Kehlen durchzuschneiden und sie über Bord zu werfen.
    Doch da ich das nun einmal nicht getan hatte …
    Dank meiner längeren Schritte hatte ich Saburo sofort eingeholt. »Holt ihr Schwert.«
    Er zog die Augenbrauen zusammen. Einen Augenblick lang glaubte ich, ein Duell ausfechten zu müssen. Dann presste er die Lippen aufeinander und nickte knapp. Während er sich nach dem Rapier in der Scheiße bückte, ging ich zu Dariole.
    Ich packte die Hand mit dem Dolch und zog ihre Knöchel über das Holz. Die Waffe fiel ihr aus der Hand. Ich überließ sie Saburo. Dann drehte ich Dariole den Arm auf den Rücken, packte mit dem anderen Arm ihren triefendnassen Leib und hob sie hoch.
    Sie schrie: »Wage es ja nicht!«
    Ich veränderte meinen Griff, sodass ich mit einem Arm ihre beiden Arme an den Leib drücken und mit dem anderen die Knie halten konnte. Ich hatte das Gefühl, als hielte ich einen Sack mit Aalen in den Armen. »Dariole! Mademoiselle …!«
    Sie erschlaffte. Fast schien sie in Ohnmacht gefallen zu sein, nur dass ich ihren schnellen Atem an meiner Brust spürte.
    Saburo kehrte wieder zu mir zurück. Angewidert hatte er die verdreckten Waffen in seinem Mantel verborgen – in meinem Mantel, um genauer zu sein. Ich marschierte strammen Schrittes davon und nahm Seitenstraße auf Seitenstraße, um schnell genug von neugierigen Blicken wegzukommen.
    Warum? Warum in Gottes Namen mache ich das alles

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