1610 02 - Kinder des Hermes
Dariole … Es tut mir Leid!«
Sie streckte die Hand aus und berührte meine Schläfe. Einer ihrer Finger wanderte über mein Haar.
Ich kenne Mademoiselle Dariole gut: Ich weiß, wie sie steht, wie sie sich bewegt, und ich weiß, dass sie es nicht so schnell vergisst, wenn man sie verletzt hat. Und bei einer Verletzung wie dieser …!
Bis jetzt wusste ich nicht, wie es aussehen würde, wenn du mir vergibst …
Ich vermag es kaum zu ertragen!
Ihre Fingerspitzen wanderte über meine Wange und unter meinem Auge entlang.
»Ihr seid dort nass, Messire.«
Was mich nahezu sofort in die Verzweiflung stürzte, war nicht die Tatsache, dass ich fast geweint hätte, sondern das Lächeln in ihrer Stimme – zitternd, aber es war da. So spürte ich tatsächlich eine Träne, die sich ihren Weg aus meinem Auge bahnte.
»Ich bin ein Narr«, sagte ich in rauem Ton. »Ich hätte genug Verstand besitzen müssen, Euch schon vor langer Zeit um Verzeihung zu bitten. Dann hätte ich Euch vielleicht nicht so schlecht behandelt. Ach, Mademoiselle! Wie kann es sein, dass Ihr mir trotzdem noch vergeben könnt?«
»Weil Ihr mich darum gebeten habt.«
Ihre Worte trafen mich wie ein Schlag.
Sie hielt kurz inne; offenbar dachte sie nach.
»Ihr hasst mich also nicht«, sagte ich dümmlich.
Ihre Mundwinkel zuckten leicht. Sie fuhr mir mit den Fingern durchs Haar, spielte mit einer Strähne und zog sanft daran.
»Manchmal, Messire, manchmal seid Ihr wirklich langsam …«
»Nicht …« Ich rückte von ihr weg und schüttelte den Kopf, um wieder klar denken zu können. Da ist diese Kluft zwischen uns – das ist Fludd. Weil ich zu unreif bin, es zu verstehen. »Ich bin nicht sicher für Euch! Habe ich das nicht gerade erst bewiesen? Dariole, ich will, was ein Junge will, der halb so alt ist wie ich: Ich will Euch. In meiner Gegenwart seid Ihr nicht sicher.«
Die voreilige Akzeptanz wich aus ihrem Gesicht. Ich hätte mehr als nur eine Träne vergießen können, aber wie würde ich dann aussehen? Und außerdem hat sie sich das Gejammer eines Besoffenen schon lange genug angehört.
»Ich hätte es besser wissen müssen und mich nicht betrinken dürfen, Mademoiselle.« Ich bemühte mich, so zerknirscht wie möglich zu klingen. »Ich entschuldige mich. Vergesst, was Ihr heute Nacht gehört habt. Ich bin alt genug, um solche Situationen in Zukunft zu vermeiden.«
»Gott verdammt, Rochefort!« Dariole stand auf und schaute mich mit einem Gesichtsausdruck an, den ich nicht deuten konnte. »Wer hat Euch eigentlich das Recht gegeben zu entscheiden …«
Sie wirbelte herum und stapfte davon. Allem Anschein nach erstickte sie fast vor Wut.
Zwischen Entsetzen, Erregung und dem unbändigen Verlangen, mich zu betrinken, hin- und hergerissen, kam mir erst, nachdem sie zwischen den Zelten verschwunden war, der Gedanke: Ich hätte sie nicht gehen lassen dürfen.
Eine Viertelstunde später ging ich zu jenem Teil der Festung, wo das sogenannte ›Verrätertor‹ zum Fluss führte. Der Wind wehte kalt vom Wasser heran und kühlte mir die Wangen. Das Plätschern hallte im Torbogen wieder. Es war noch immer Hochsommer. Erst nach neun Uhr wurde es richtig dunkel, und selbst des Nachts wurde es nicht kalt genug für einen Mantel. Wer in der Lage war zu schlafen, konnte das auch im Freien tun.
Warum begehre ich sie so sehr, und warum wünsche ich mich nichts sehnlicher, als sie zu beschützen?
Manchmal ergibt sich etwas, und dann kann man nicht mehr zurück. Was erst nur wahrscheinlich war – oder so unwahrscheinlich wie, dass die Sterne das Schicksal der Menschen beeinflussen –, wird bisweilen plötzlich zur Tatsache, und alles hat sich verändert.
Ich blickte auf mein kaum sichtbares Spiegelbild in dem schwarzen Wasser hinunter. Valentin Raoul Rochefort. Wer war Valentin Raoul St Cyprian Anne-Marie de Cossé Brissac … dieser Narr?
War ich wirklich so arrogant zu glauben, die offensichtliche Schwärmerei einer jungen Frau ausnutzen zu können, um sie ins Bett zu bekommen?
Du solltest ein Vater für sie sein, ein Onkel, ein Freund, dachte ich, so wie es Monsieur Saburo für sie ist. Übelkeit stieg in mir hoch. Es bedurfte nicht mehr viel, und ich würde mich übergeben.
Zwei Towerwärter kamen auf ihrer Streife an mir vorbei und nickten mir respektvoll zu. Ich verneigte mich und ging zwischen den hohen Mauern und Türmen davon, die in den sechzehnhundert Jahren ihrer Geschichte ohne Zweifel schon Peinlicheres gesehen hatten, als einen Mann
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