1610 02 - Kinder des Hermes
das Innerste herausreißt. Ich habe schon gesehen, wie manche das mehr als eine Viertelstunde lang überlebt haben.«
»Wir lassen einen Mann von vier Pferden zerreißen«, erwiderte ich kalt. »Das ist unterhaltsamer.«
Seine Schritte verhallten auf der Wendeltreppe begleitet von einem Grunzen, das vielleicht Abscheu war.
Verzeiht mir, Messire Ravaillac, dachte ich.
Draußen läuteten die Turmglocken die Abendstunden. Der Wind war inzwischen stärker geworden und wehte ihr Läuten von Osten heran. Die Jesuiten mussten mit einem anderen Schiff etwa zur gleichen Zeit hier eingetroffen sein wie Maria di Medici. Der Wind war gut für Fahrten vom Kontinent.
Niemand sprach mit mir; kein Wärter rüttelte an der Tür. Bald wurde offensichtlich, dass niemand einen Boten von Greenwich geschickt hatte.
Die Fackel in der Treppennische brannte herunter, und die Nacht schlich voran. Ich schlief nicht. Ich saß mit dem Rücken an der Wand, bis wieder Licht über den Boden kroch und das Braun und Schwarz des nassen Strohs in Gold verwandelte.
Ratten tollten durch das von der Sonne erwärmte Stroh und nutzten kühn meine Stille aus. Eine Zeit lang beobachtete ich einen großen Nager mit weißem Bauch – vermutlich ein Vater –, der drei Rattenjungen darin zu instruieren schien, wie sie sich Essen aus der zurückgelassenen Schüssel des letzten Gefangenen stibitzen konnten. Ihre schimmernden schwarzen Augen erfüllten mich nicht mit Abscheu. Dass sie meinen Blick erwiderten und nicht flohen, ließ auf eine wenn auch brüchige Vertrauensbasis zwischen uns schließen.
Wie brüchig ist Vertrauen eigentlich? Und wie steht es um die Dankbarkeit der Fürsten?
Die Ratten verschwanden so schnell, als hätten sie sich in Luft aufgelöst.
Ich stand auf, als die Tür knarrte.
Ohne Zweifel arbeitet Saburo draußen für mich, vielleicht sogar der Minister …
Kein Fackellicht fiel von der dunklen Treppe zu mir herein. Die Tür öffnete sich, und eine dünne Gestalt schlüpfte hinein und schloss sie wieder. Das Schloss klickte.
Das Licht der Morgensonne fiel auf Mademoiselle Dariole.
Ich hätte es nicht tun sollen, aber ich sprang auf, lief durch die Zelle und schlang die Arme um sie.
Sie erwiderte meine Umarmung und drückte sich an mich. Sofort war ich steif und aufrecht wie ein kleiner Junge.
»Verzeiht mir, Mademoiselle.« Ich schob sie ein wenig von mir, rückte die Hose zurecht und legte ihr dann beide Hände auf die Schultern. Ich küsste sie auf den Kopf, der mir bis zum Schlüsselbein reichte; dann ließ ich sie los, packte sie wieder, drückte ihren dünnen Leib an meinen und presste die Lippen auf ihr Haar.
Sie hielt mich fest genug, dass ein kleinerer Mann keine Luft mehr bekommen hätte.
Schließlich schob ich sie erneut fort, hob ihr Kinn mit der Hand und küsste sie. Die Not zwang mich dazu, und Darioles heißer, süßer Duft. Ich spürte ihren Bauch und ihre Brust durch Wams und Hose und ihre Finger in meinem Haar. Ich schob ihr die Zunge in den Mund.
Sie erstarrte; jeder einzelne Zoll ihres Leibes war wie gefroren.
Sie hob die Hände und stieß mir hart genug vor die Brust, dass ich – unvorbereitet wie ich war – einen halben Schritt zurücktaumelte. Ich starrte sie mit offenem Mund an. Dort, wo mich ihr warmer Leib berührt hatte, war mir eiskalt.
»Oh, gütiger Gott!« Ich drehte mich um und schlug mit der Faust gegen die Wand. Eine Zelle, eine Zelle im Tower von London, und hier ist sie missbraucht worden, vielleicht sogar in eben dieser Zelle …!
Meine Knöchel schmerzten und bluteten. Sie fing mich auf, als ich zu Boden sank. Dariole konnte mein Gewicht jedoch nicht halten, und so endeten wir beide auf dem Boden, ich auf den Knien, sie über mich gebeugt.
Ich zog ihr Gesicht zu mir herunter und starrte die junge Frau an, die vor mir hockte.
»Ich werde das nie wieder tun«, sagte ich. »Nie wieder.«
Sie war nicht schön, wenn sie weinte. Ihre Augenlider schwollen an, und ihre Nase wurde knallrot. »Noch nicht einmal, wenn ich Euch darum bitte, Messire?«
Das ließ mich lachen, was eigentlich ein Schluchzen war, und gleichzeitig fluchen.
Sanft, sehr sanft, nahm ich ihre Hände. »Dariole … Haben Cecil oder der König Euch hierher gebracht?«
Beleidigt rümpfte sie die Nase und blickte mich mit verweinten Augen an. »Glaubt Ihr etwa, ich wäre nicht allein dazu imstande gewesen?«
»Ich kenne die Wärter. Ohne Genehmigung hätten sie Euch den Zutritt nicht gestattet. Aber wenn Ihr
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