1610 - Knochen-Lady
ging ich langsam weiter, und ich musste auch darauf achten, dass mir der Schädel nicht aus dem Arm rutschte, denn auch er war inzwischen glatt geworden.
In diesem stärker werdenden Schneetreiben war ich völlig ohne Sicht.
Aber nicht ohne Gehör!
Zunächst glaubte ich an eine Täuschung durch den Wind, als etwas an meine Ohren drang. Es war nicht sofort zu identifizieren, ich nahm es nur als Wispern wahr, aber es war eine Botschaft, und ich konzentrierte mich darauf.
Ein Ruf?
»Bist du das, John?«
Endlich hatte ich etwas verstanden. Ich zuckte leicht zusammen und hielt den Schädel so, dass ich ihn anschauen konnte.
»Ich bin da!« Es war mir egal, ob man mich gehört hatte oder nicht, und verzog den Mund zu einem Lächeln, als ich die Antwort bekam.
»Das freut mich.«
»Ich habe dir auch etwas mitgebracht.«
»Das ist gut.«
»Und wo soll ich hinkommen?«, fragte ich. »Ich kann dich leider nicht sehen. Oder hast du deine Pläne geändert?«
»Nein.«
Ich dachte in diesem Moment nur an mich und nicht an meinen Freund Bill Conolly, der durch den Schädel und auch Miranda beeinflusst worden war. Bei mir schaffte der Knochenkopf das nicht.
»Geh einfach weiter«, sagte Mirandas Stimme.
»Und dann?«
»Geh nur und vertrau mir.«
Was blieb mir anderes übrig? Sie war die Chefin, und ich wollte ihr endlich gegenüberstehen. Und so setzte ich meinen Weg durch den Schneewirbel fort.
Ich schaute nicht nach links und auch nicht nach rechts. Ich konzentrierte mich ausschließlich auf die Stimme.
»Du kannst stehen bleiben!«
Auf diese Aufforderung hatte ich gewartet. Schon in der folgenden Sekunde stand ich unbeweglich und wartete ab, was passieren würde.
»Dreh dich nach links!«
Das tat ich.
»Und jetzt geh auf den nächsten Eingang zu. Es ist eine offene Tür. Ich warte.«
Und ich tat, was man mir geheißen hatte. Jetzt erwischten mich die harten Flocken von der Seite. Mehr erkennen konnte ich trotzdem nicht.
Ich sah die graue Wand vor mir, aber auch den schmalen Weg, der vor dem Hauseingang endete. Erst als ich dicht davor stand, sah ich, dass die Tür weit offen war.
Ich legte den letzten Rest schnell zurück und schob mich über die rutschige Schwelle hinein in die Kaserne.
Sofort war alles anders. Es gab keinen Schnee mehr. Nichts, was mein Gehör störte. Ich konnte mir die Feuchtigkeit aus dem Gesicht wischen und erst mal tief durchatmen.
Dann sah ich mich in meiner neuen Umgebung um.
Es gab nicht viel zu sehen. Ich befand mich in einem Flur oder Korridor, der nicht sehr lang war und an einem breiten Quergang endete. Das sah ich trotz der schlechten Beleuchtung. Licht gab es nicht. Ich musste mich mit dem wenigen begnügen, was durch die offene Tür drang.
Ich ging bis zum Quergang vor und wartete darauf, eine neue Botschaft zu erhalten. Sie erreichte mich noch nicht, und so konnte ich nur abwarten.
Untätig blieb ich trotzdem nicht. Ich schaute nach links und nach rechts.
Doch es war einfach zu düster, um etwas erkennen zu können. Vom Gefühl her ging ich davon aus, dass dieser Gang menschenleer war.
Ich schaute wieder auf den Schädel. Auf dem gelben Gebein war der Schnee längst geschmolzen. Wassertropfen rannen an ihm entlang wie Tränen, und noch immer war mir nicht klar, welchen Weg ich einschlagen sollte.
Aber die andere Seite ließ mich nicht im Stich. Wieder meldete sich der Totenkopf.
»Nachlinks…«
»Klar.« Ich lachte leise. »Hätte ich auch sowieso getan.« Nach dem letzten Wort ging ich los. Die Wände wurden von zahlreichen Türen unterbrochen. Ich passierte die ersten beiden und schaute in die Zimmer hinein, weil keine Tür geschlossen war.
Man hatte sie noch nicht leer geräumt. Die Betten standen übereinander, und die Räume waren groß genug, um jeweils drei Doppelbetten aufnehmen zu können. In jeder Bude schliefen sechs Soldaten. Oder hatten darin geschlafen.
»Geh nur weiter. Bis zum Ende…«
Ich war froh, dass ich geleitet wurde. Nur kam ich mir mit dem Schädel unter dem Arm komisch vor, doch daran wollte ich jetzt nicht denken und folgte der Aufforderung.
Auch die anderen Türen standen offen, und dann erreichte ich die letzte.
Ich war gespannt, ob mich Miranda wirklich dort erwartete oder ob sie mir doch eine Falle gestellt hatte. Auch wenn sie so aussah, ich sah die Knochen-Lady nicht mehr als einen normalen Menschen an.
Der letzte Schritt, dann stand ich vor der Tür, die diesmal geschlossen war.
»Komm rein…«
»Keine Sorge«,
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