1610 - Knochen-Lady
schaffst, die Menschen so in deinen Bann zu ziehen, dass sie alles andere vergessen. Dass sie ihre Moral über Bord werfen, dass sie nicht mehr so reagieren wie normale Menschen. Wer oder was steckt dahinter?«
»Das ist ganz einfach. Es sind meine Freunde.«
»Die Schädel?«
»Ja. Sind sie nicht herrlich? Sie gehorchen mir. Sie sehen so tot aus, aber sie sind nicht tot. Sie leben. Ja, das große Leben steckt in ihnen, John.«
Ich widersprach. »Es ist eine böse Macht. Das habe ich bereits festgestellt. Sie wollen die Gewalt über andere Menschen bekommen, und das haben sie geschafft. Sogar bei meinem Freund. Aber ich weiß auch, dass es nicht die Schädel sind, die so reagieren, sondern das, was nicht vergangen ist und von dir in bestimmte Bahnen gelenkt wurde.«
»Du sprichst von ihrer Seele?«
»Ja, wenn du willst. Du hast sie gesammelt. Du weißt genau, zu wem sie gehören. Und es waren schlimme Menschen. Verbrecher, die anderen Leuten schreckliches Leid angetan haben. Das ist grausam gewesen und…«
»… mit ihrem Tod nicht beendet!«, schrie sie mir ins Gesicht. »Ja, es stimmt. Ich habe mir diese Schädel geholt. Weil ich wusste, dass es da noch etwas gab, das nicht gestorben ist. Ihre Seelen oder ihr böser Geist waren auf der Wanderschaft. Ich habe sie mir geholt. Ich habe sie beschworen. Ich habe sie zu ihren Resten, die noch geblieben sind, zurückgelockt. Die vier Schädel sind ihre Anlaufstation. Ich habe den Tod schon immer geliebt, und ich wusste, dass es ihn in zahlreichen Facetten gibt. Eine davon konnte ich für mich benutzen. Und das ist eben das absolut Wunderbare.«
»Aber nicht für mich, Miranda. Sie dürfen ihre Taten nicht fortsetzen, auch nicht indirekt. Nein, das dürfen sie auf keinen Fall.«
»Bist du deshalb zu mir gekommen?«
»Ja, das bin ich.«
»Dann musst du auch mich töten!«, flüsterte sie. »Ich lasse mir die Schädel nicht nehmen. Auch du wirst unsere Verbindung nicht zerstören können, John.«
»Tut mir leid für dich. Aber das sehe ich anders.«
Meine Sturheit gefiel ihr nicht. Wütend schüttelte sie den Kopf. Dabei drang ein Knurren aus ihrem Mund, und ich merkte, dass sich allmählich so etwas wie eine Todfeindschaft zwischen uns aufbaute, die uns wie eine unsichtbare Glocke umgab.
Ich hatte lange genug geredet. Ich wollte endlich handeln. Es gab kein Überlegen mehr für mich. Mein Plan stand bereits für mich fest.
Nicht einmal besonders schnell zog ich meine Beretta.
Miranda verzog ihre Lippen zu einem spöttischen Lächeln.
»Willst du mich töten?«
»Lass es darauf ankommen.«
Sie wollte etwas sagen. Den Mund hatte sie bereits geöffnet, als sie sah, dass ich mich nach rechts drehte. Hin zu dem Regal, in dem die Köpfe standen.
Ich visierte den gelben Totenschädel an.
Es herrschte zwar kein perfektes Ziellicht, aber den Schädel würde ich immer treffen.
Noch mal kurz geschaut, dann drückte ich ab.
Der Schussknall zerstörte brutal die Stille. Auch Miranda zuckte zusammen, und mir war es nicht anders ergangen.
Die Silberkugel schlug direkt in das Gebein. Es war, als hätte jemand mit einem Hammer gegen den Schädel geschlagen. Er flog auseinander.
Die einzelnen Stücke spritzten nach allen Seiten weg. Und nur ein kleiner Rest blieb auf dem Boden des Regals liegen.
Das Schussecho war noch nicht verhallt, als ich einen gellenden Schrei hörte. Ich konzentrierte mich auf Miranda. Sie saß auf dem Bett, schüttelte sich und schlug dabei mit beiden Händen gegen die sie umgebenden Totenschädel.
Ich behielt die Frau und auch die anderen farbigen Totenschädel im Auge. Bei ihnen tat sich nichts.
Miranda jaulte auf. Ihr Gesichtsausdruck zeigte nicht mehr diese laszive Lockung. Jetzt waren ihre Züge verzerrt und vor Wut entstellt.
Ich hob die Schultern. »Es tut mir nicht einmal leid. Jetzt weißt du, weshalb ich zu dir gekommen bin.«
»Du willst meine Freunde töten!«
»Ja, ich muss sie vernichten. Es geht nicht anders. Sie dürfen kein weiteres Unheil anrichten. Und du darfst es auch nicht.«
Sie hatte meine Worte gehört und dachte darüber nach. Nach einer Weile fragte sie: »Was hast du vor?«
»Ich werde den Schädeln ihre Kraft und ihre Magie nehmen. Das verspreche ich dir.«
»Du willst alle vernichten?«
»Ja. Denn die Geister der Mörder sollen keine Wirtskörper mehr finden. Sie sollen dorthin geschleudert werden, wo es für sie keine Rückkehr mehr gibt.«
Jetzt kannte Miranda die ganze Wahrheit, und ich war
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