1620 - Vorleser des Teufels
wurde?«
»Nein!«
»Dann will ich es dir sagen«, erklärte er. »Der Einband besteht aus Menschenhaut.«
»Was?«
»Ja, aus der Haut eines alten Zauberers, der dies in seinem Testament verfügt hat. Sie ist wunderbar weich und dehnbar. Möchtest du das Buch mal anfassen?«
»Nein, nein, das will ich nicht. Ich glaube dir auch so.«
»Klar. Weshalb hätte ich dich auch belügen sollen?« Er warf ihr einen Seitenblick zu, legte die Stirn in Falten, senkte dann den Blick und schlug das Buch auf. Er hatte sofort die richtigen Seiten parat.
Bisher war Audrey nie ein Blick in das Buch gelungen. Dafür sorgte Karu jetzt, indem er es umdrehte. So konnte sie erkennen, dass die beiden offenen Seiten nicht nur mit Text vollgeschrieben waren. Auf der linken befanden sich drei Bilder, die untereinander angeordnet waren. Sie gehörten nicht zu den Motiven, die man kleinen Kindern zeigte, es waren Drachenund Schlangenwesen, wobei das mittlere Bild eine Gestalt zeigte, die an das Monster von Loch Ness erinnerte.
Die rechte Buchseite war zu zwei Dritteln mit dichtem Text bedeckt. Auf der Fläche darunter war eine Zeichnung abgebildet, die aussah, als hätten sich zwei Schlangen ineinander verknotet.
»Darf ich fragen, was ich zu hören bekomme?«
»Ja, das darfst du. Es ist ein besonderer Zauber, mit dem ich dich bekannt machen möchte.«
Audrey wollte nichts falsch machen und sagte deshalb: »Ich freue mich darauf.«
»Ich auch.«
Audrey wusste, dass er nicht mehr sagen würde, und hielt deshalb den Mund. Sie blickte ihn aus ihrer halb liegenden Position an und sah, dass sich Karu auf seinen Text konzentrierte. Er legte das aufgeschlagene Buch auf seine Knie, atmete noch mal tief durch, nickte dann und fing an zu lesen.
Bereits nach den ersten Worten war Audrey der Faszination seiner Stimme erlegen. Es war ihr egal, ob sie den Text verstand oder nicht, sie hörte einzig und allein diese Stimme, die so anders war als die Stimmen der Menschen, die sie kannte.
Audrey Wilder hatte es noch geschafft, sich für die Dauer von knapp zwei Minuten auf die Stimme zu konzentrieren, dann war es vorbei. Sie fühlte sich plötzlich fortgetragen, so losgelöst, aber sie lauschte weiterhin der Stimme des Kreolen, auch wenn diese weit in den Hintergrund gedrängt worden war. Es war für sie das Wunder, das sie nun allein erlebte und nicht mehr im Kreis der Gleichgesinnten.
Niemand konnte bestimmen, wann der Vorleser aufhörte. Das mussten seine Zuhörer ihm überlassen. Karu las so lange, wie er es sich vorgenommen hatte und er an sein Ziel gekommen war.
Je mehr Zeit verstrich, umso stärker hatte sich Audrey der Stimme hingeben müssen. Ihr waren zudem die Augen zugefallen. Nichts mehr von der normalen Welt und von der normalen Umgebung war für sie wichtig. Es zählte nur noch die Stimme des Vorlesers.
Er las weiterhin halblaut vor, aber seine Stimme hörte sich jetzt gleichförmiger an, enthielt so gut keine Modulation mehr, und wer den Vorleser kannte, der wusste, dass er sich dem Ende des Textes näherte.
Bis er dann schwieg!
Audrey lag still auf der Couch. Ihr kam erst gar nicht der Gedanke, sich zu rühren.
Noch immer war sie vom Klang der Stimme erfüllt, obwohl sie sie nicht mehr hörte. Diese Tatsache drang nur allmählich in ihr Bewusstsein.
Deshalb erwachte sie auch nicht zuckend oder schnell. Die Rückkehr in die Wirklichkeit glich bei ihr einem allmählichen Aufsteigen aus der Tiefe.
Auch wollte sie sich jetzt mit allen Sinnen auf die Umgebung konzentrieren, denn da war ihr etwas aufgefallen.
Seltsame Laute waren an ihre Ohren gedrungen. Sie konnte mit ihnen nichts anfangen, aber Stimmen waren es auf keinen Fall. Also sprach auch niemand mit ihr.
Und trotzdem blieben diese Geräusche, Was konnte das nur sein? Es fiel ihr nicht leicht, sich zu konzentrieren, denn sie fragte sich, ob Karu dafür verantwortlich war.
Ihr Unterbewusstsein signalisierte ihr Gefahr. Audrey Wilder hatte sich immer auf Karu verlassen. In diesem Fall sah es anders aus. Da war es ihr nicht mehr möglich, etwas hatte sich verändert, und sie spürte die Gefahr, die sie umgab.
Wieder das Geräusch.
Ein Zischen!
Sie konnte im ersten Moment nichts damit anfangen, ging aber davon aus, dass dieser Laut nicht von dem Vorleser stammte. Der verhielt sich sowieso seltsam. Er sagte kein Wort, und wenn sie etwas herausfinden wollte, dann musste sie es selbst in die Wege leiten und einfach nur die Augen öffnen.
Das war leichter gesagt als
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