1622 - Sie kamen aus der Totenwelt
Eine E-Mail-Adresse haben Dagmar und ich angeklickt, aber nichts weiter herausgefunden. Zumindest nichts, was mit unserem Fall zusammenhängt. Sie haben sich im Netz nur als Bergfreaks geoutet.«
»Kennst du ihre Berufe, Harry?«
»Nein.«
Da würden wir uns überraschen lassen, falls wir überhaupt auf sie treffen würden, was wir nicht so recht glaubten. Zudem war ein gewisser Fabricius wichtiger, und dem wollten wir in Pontresina einen Besuch abstatten.
Es war Vormittag, wir hatten herrliches Wetter und würden hoffentlich keine Probleme mit der Fahrt bekommen.
Suko bekam glänzende Augen, als er den A6 sah. Er war ja der direkte Konkurrent für seinen BMW.
Harry Stahl sah, was in Suko vorging, und fragte, ob es ihm etwas ausmachen würde, den Wagen zu fahren.
»Überhaupt nicht«, erwiderte Suko, und seine Augen glänzten noch mehr.
Harry warf ihm den Schlüssel zu. »Und fahr nicht gegen die Wand, der Leihwagen ist auf mich zugelassen.«
»Keine Sorge, ich bin im Training. Wusstest du eigentlich, dass man mich den Serpentinen-Tiger nennt?«
»Nein, aber gut, dass wir darüber gesprochen haben. Da werden wir ja kaum Probleme bekommen.«
Das zumindest dachten wir zu diesem Zeitpunkt…
***
Warten - kurzes Warten, mittleres Warten, langes Warten. Das machte einem naturverbundenen Menschen wie Fabricius nichts aus. Er sah sich als die Ruhe selbst an und verglich sich mit einem Felsblock.
Nicht so an diesem Morgen. Da wartete er auf seine beiden Verbündeten. Sie hatten ihm versprochen zu kommen, und wie er sie kannte, würden sie ihr Versprechen halten, denn er hatte es sehr dringend gemacht.
Urs Hoff mann wohnte in St. Gallen. Er hatte es eigentlich näher als Mario Montini, aber wie Fabricius die beiden kannte, würden sie sich unterwegs treffen, um gemeinsam nach Pontresina zu fahren.
Fabricius hatte sich wieder in sein Haus zurückgezogen. Er saß dort am Tisch. Hin und wieder nahm er zwei Steinkugeln in die Hand und bewegte sie in der Handfläche hin und her. Das stärkte die Muskulatur, das tat ihm gut, und es sorgte letztendlich auch für Konzentration auf das Kommende.
Seine Freunde hatten ihn nicht verlassen. Wie immer warteten die Raben draußen und hatten einen Ring um das Haus gezogen. Sie waren fähig, Freund und Feind zu unterscheiden.
Die Sonne wanderte, stieg höher, ihre Strahlen erwärmten das Land noch mehr und drangen auch in das Haus ein, das sie mit ihrem Schein vergoldeten.
Das alles sah der Blinde nicht. Dafür war sein Gehör umso besser geschult.
Zuerst wurden die Raben aufmerksam. Fabricius nahm ihre Unruhe wahr.
Sie flogen hoch, schlugen mit den Flügeln.
Fabricius wurde aufmerksam. Er veränderte seine Sitzhaltung und sah aus, als wollte er sich aufrichten. Noch blieb er sitzen, bis er die Stimmen der beiden Männer hörte, die schon fast den Eingang des Hauses erreicht hatten.
»Kommt her!«, rief er. »Kommt zu mir…«
»Ja, das machen wir.«
Es war Urs Hoffmann, der die Antwort gegeben hatte. Wenig später betrat er das Haus. Er und Fabricius umarmten sich, und wenig später war Mario Montini an der Reihe.
Sie wussten nicht, dass ihr Freund Todd Hayes nicht mehr lebte, und Fabricius hütete sich, ihnen davon zu erzählen. Sie waren schon traurig genug gewesen, Michael Norton verloren zu haben. Später war Zeit genug, ihnen die Wahrheit zu sagen.
»Und was ist denn so wichtig, dass du uns geholt hast?«
»Alles.«
»Wieso?«
Fabricius ließ sich etwas Zeit mit der Antwort. »Ich wollte euch nur mitteilen, dass ihr jetzt das Geheimnis…«
»Wir sollen mit dir auf den Corvatsch?«
»Ja.«
»Und dann?«
»Keine Sorge. Ihr werdet nicht enttäuscht werden. Der Berg wartet, um auch euch sein Geheimnis preiszugeben.«
»Wann sollen wir denn los?«, wollte Urs wissen.
»Gleich. Oder so schnell wie möglich. Ich bin bereit. Und wie ist es mit euch?«
»Wir auch.«
»Dann lasst uns aufbrechen. Einige meiner Freunde werden hier zurückbleiben und über mein Haus wachen.«
Hoffmann musste lachen. »Meinst du denn, dass jemand kommt? Das war doch bisher nie der Fall.«
»Man kann nie wissen«, erwiderte der blinde Mann mit geheimnisvoll klingender Flüsterstimme…
***
Chur war auf unserer Reise das erste Etappenziel. Es war der Ort, der vor dem Hochgebirge lauerte. Dort holte man noch einmal tief Luft, bevor es in die Berge ging. In Serpentinen führte der Weg hoch bis zum Julierpass, den auch wir überqueren mussten, um in das Obere Engadin zu
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