1626 - Die Nymphe
nicht meine erste Begegnung mit einem Sarg aus Glas. Aber hier lag kein Schneewittchen, sondern eine Person, die älter war und sich nicht mehr bewegte. Eine Tote eben, hätte man denken können. Aber ich hatte da meine Zweifel.
Ich dachte an die Gestalt, die ich am Waldrand getroffen hatte. Es war leider recht dunkel gewesen. Ich hatte sie als einen düsteren Schatten erlebt mit einem etwas helleren Gesicht. Doch ich konnte nicht mit Bestimmtheit sagen, dass die Tote und die Frau, die ich getroffen hatte, identisch waren.
Ich trat nahe an den Sarg heran und schaute durch den Deckel auf die auf dem Rücken liegende Gestalt, die völlig starr war. Nichts bewegte sich bei ihr, und als mein Blick zu ihrem Gesicht zurückkehrte, sah ich, dass ihre Augen geschlossen waren.
Auch Melissa trug die Kleidung der hier lebenden Frauen.
Ich sah auch ihre Hände, die aus den Ärmelöffnungen hervorschauten.
Die Hände lagen übereinander, die Finger waren leicht gekrümmt. Das starre Gesicht zeigte Züge, die auch zu einem Mann gepasst hätten, doch das konnte auch daran liegen, dass sie nicht mehr lebte. Sie sah sehr knochig aus. Kinn und Nase traten weiter hervor, als es bei einem Menschen normal war. Die Lippen waren geschlossen, und es gab keinerlei Anzeichen, dass sie noch lebte. Diese Frau war tot.
Aber ich hatte sie gesehen, und diese Begegnung wollte mir nicht aus dem Kopf, als ich die starre Gestalt betrachtete. Etwas musste mit ihr sein.
Ich beugte mich weiter vor und suchte nach Anzeichen von Verwesung.
Sie waren nicht zu erkennen. Zwar war ihre Haut nicht mehr glatt, aber das konnte man bei einer Frau dieses Alters auch nicht erwarten.
Ich richtete mich wieder auf und drehte mich nach rechts, wo Martha stand. Bevor ich sie ansprechen konnte, übernahm sie das Wort.
»Nun, sind Sie zufrieden?«
»Nicht ganz.«
»Das dachte ich mir.«
»Wieso?«
»Sie sind Polizist. Zudem haben Sie etwas Bestimmtes erlebt. Sie können gar nicht zufrieden sein.«
»Da haben Sie recht.«
»Und was wollen Sie tun?«
Ich deutete mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf den Sarg. »Kann man ihn öffnen?«
Martha erschrak. Sie sah mich an, als hätte ich ihr etwas Furchtbares vorgeschlagen.
»Nun, was ist?«
Sie schluckte, räusperte sich und sagte dann mit leiser Stimme: »Ja, man kann ihn öffnen. Aber seit ihrem Ableben ist er noch nie geöffnet worden. Dazu gab es keinen Grund. Für mich ist sie nach wie vor tot. Oder sehen Sie Zeichen dafür, dass sie lebt?«
»Nein, das nicht.«
»Aber Sie wollen den Sarg öffnen?«
»Ja. Ich möchte etwas Bestimmtes herausfinden. Dazu brauche ich Kontakt mit Melissa.«
Die Frau hatte sich entschlossen. Sie nickte und sagte mit leiser Stimme: »Gut, dann werden wir es versuchen.«
»Danke.«
Judy May mischte sich nicht ein. Sie hatte mich losgelassen und war zur Wand zurückgewichen. Sie bewegte sich nicht. Es sah aus, als wäre sie zu Stein geworden. Ihr schien alles suspekt zu sein.
Ich hatte gesehen, dass die beiden Hälften des Sargs durch ein dunkles Gummi luftdicht miteinander verbunden waren. Ich hoffte, dass unsere Kräfte ausreichten, um den Deckel abzuheben.
Wir stellten uns an den Schmalseiten auf, bückten uns und griffen gemeinsam zu. Martha trug noch ihre Bedenken vor und fragte mit leiser Stimme: »Glauben Sie nicht, dass die Tote plötzlich verwesen wird, wenn sie mit Luft in Berührung kommt?«
Ich hob die Schultern. »Das Risiko müssen wir eingehen. Meiner Ansicht nach wird dies nicht geschehen.«
»Haben Sie Gründe für Ihre Annahme?«
»Nein, nur ein Gefühl, das auf gewissen Erfahrungen beruht. Mehr kann ich Ihnen auch nicht sagen.«
»Dann versuchen wir es.«
Der Deckel war wegen seiner Form und seiner Glätte schlecht zu fassen.
Es gab keine andere Möglichkeit.
Auf mein Nicken hin zogen wir beide. Zumindest ich setzte meine ganze Kraft ein, doch der Deckel ließ sich nicht bewegen.
Martha ließ los. Ihr Gesicht verzog sich. Sie dachte an Aufgabe. »Wir schaffen es nicht.«
»Das müssen wir aber. Ich habe an meiner Seite schon einen kleinen Erfolg gespürt. Kommen Sie, nehmen wir einen zweiten Anlauf.«
»Okay, wie Sie meinen.«
Diesmal setzte ich noch mehr Kraft ein. Ja, der Glasdeckel bewegte sich, und plötzlich hörte ich ein schmatzendes Geräusch, und dann ließ sich der Deckel vom unteren Teil des Sargs abheben.
Jetzt hatte auch Martha keine Probleme mehr. Sie gab einen leisen Schrei ab, taumelte zwei Schritte zurück und konnte kaum
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