1631 - Die Taiga-Göttin
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Sie war da.
Sie ging auch nicht fort. Sie kümmerte sich nicht um die anderen Männer, sondern konzentrierte sich einzig und allein auf Igor Sarow, der auf dem Fleck stand wie ein Ölgötze und nicht in der Lage war, sich zu bewegen.
Er zitterte nicht. Er holte kaum Luft. Er wusste nicht mal, ob er atmete. Sein Sinnen und Trachten galt allein dieser Gestalt der Taiga-Göttin.
Sie sprach ihn an. Es war überhaupt das erste Mal, dass er ihre Stimme hörte.
Er hatte das Gefühl, in einen tiefen Schacht zu fallen, als ihn dieser Klang erreichte.
So etwas hatte er noch nie in seinem bisherigen Leben zu hören bekommen.
Es war eine Stimme, und doch glaubte er, dass es in Wirklichkeit nicht so war.
Diese Stimme schien sich aus mehreren zusammenzusetzen, sodass sie eine völlig neue bildete. Nur klappte es nicht ganz, denn durch die verschiedenen Stimmen war es zu einem Wirrwarr gekommen. Fremde Stimmen, die sich zu einem einzigen Klang vereinten, das aber nicht richtig schafften, sodass die eine Stimme stets von einer anderen überlagert wurde und Igor Sarow Probleme hatte, das zu verstehen, was einzig und allein ihm galt.
»Du bist der Letzte!«, hörte er die Stimme sagen. »Auf dich habe ich lange warten müssen. Du hast den Eid geschworen, aber du hast ihn gebrochen. Aber ich sage dir, dass ich nichts vergesse, Igor. Gar nichts. Du sollst den Kreis schließen. Damals habt ihr versprochen, auf meiner Seite zu stehen, und genau dieses Versprechen wirst du jetzt einlösen. Deshalb bin ich hier. Meine Macht ist groß. Das habt ihr schon damals gewusst, und deshalb habt ihr euch auf meine Seite gestellt, um von mir zu profitieren. Das solltet ihr auch. Aber zu einem Nehmen gehört auch immer ein Geben.«
Jedes Wort hatte Igor verstanden, denn inzwischen hatte er sich an den Stimmenklang gewöhnt. Besonders der letzte Satz hatte ihn hart getroffen, und er wusste genau, was er bedeutete.
Er musste geben. Sich selbst hingeben. Er war der Göttin versprochen wie auch die anderen Männer. Mit ihm würde das Gleiche geschehen wie mit ihnen, daran ging kein Weg vorbei.
Niemand sprach. Der Kreis blieb auch weiterhin geschlossen. Man hatte den Platz für die Taiga-Göttin geschaffen, die sich lautlos ihrem letzten Opfer näherte.
»Es ist die Natur selbst, die sich in mir vereint«, flüsterte sie dem Mann zu.
»Es ist das Wunder einer fremden Welt und einer längst vergangenen Zeit, wo die Natur und der Geist noch eine Einheit bildeten. Wo das Unsichtbare sichtbar gemacht wurde. Wo die Naturvölker aus einer Dämonin eine Göttin machten. Ich war die Hüterin der Taiga. Ich habe viel gesehen und erlebt. Ich habe die Menschen hassen gelernt, als sie in den Kreislauf der Natur eingriffen. Ich konnte zunächst nichts dagegen tun. Hin und wieder zuschlagen, das war schon alles. Aber ich habe weiter gedacht und mir Menschen als Helfer geholt, die meine Ziele verfolgen. Auch ihr habt das damals versprochen. Und jetzt bin ich gekommen, um mir den Letzten zu holen. Die Zeit ist reif, um zurückzuschlagen. Ihr steht auf meiner Seite. Ihr habt es im Leben zu etwas gebracht. Ihr habt Stellungen erreicht, an denen ihr etwas bewegen könnt. Dass zwei Helfer gestorben sind, stört mich nicht. Sie haben nicht zu meinem inneren Kreis gehört, ihr schon, meine Freunde, und du, Igor, bist derjenige, der noch gefehlt hat.«
Igor Sarow konnte das alles nicht glauben. Das war einfach verrückt. Es zu erklären war so gut wie unmöglich. Er und seine Freunde hatten sich damals auf diesen Wahnsinn eingelassen, und nun wurde auch ihm die Rechnung präsentiert.
Den anderen fünf machte es nichts mehr aus. Sie hatten sich daran gewöhnt.
Nun war er an der Reihe, und er hörte zu, wie ihn die Taiga-Göttin wieder ansprach.
»Als Zeichen ihrer Verbundenheit haben sich deine Freunde die Tierfelle übergehängt. Und genau das wirst auch du später tun, um zu beweisen, zu wem du gehörst. Vorher allerdings werden wir ganz dicht beieinander sein, mein Freund.«
Es war so etwas wie ein gesprochener Ritterschlag für Igor Sarow. Er wusste jetzt, dass es kein Zurück mehr gab, und musste sich fügen. Was genau passieren würde, musste er abwarten. Es gelang ihm ein letzter Blick auf seine Frau, die auf dem Fleck stand, als wäre sie zu einer Statue geworden.
Dann war die Göttin da!
Er spürte die Berührung, als ihr Körper mit seinem zusammenstieß. Es war nur ein schwacher Kontakt, den er verspürte, doch der reichte aus. Es
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