1661 - Der Torwächter
und kräftiger Mann. Jemand, dem anzusehen war, dass er sich durchsetzen konnte. Das Haar war noch nicht grau, aber weniger geworden, sodass die Kopfhaut durchschimmerte. In seinem Gesicht fiel der dichte Oberlippenbart auf, den er schon immer getragen hatte. Cora konnte sich nicht daran erinnern, ihren Vater jemals anders gesehen zu haben. Er war schnell bei ihr und schlang seinen Arm um sie. »Was ist denn los mit dir, Mädchen?«
Es tat Cora gut, von ihrem Vater umarmt zu werden. Sie hatte eigentlich vorgehabt, eine normale Antwort zu geben. Das schaffte sie plötzlich nicht mehr. Da brach es aus ihr heraus. Sie musste den Tränen einfach freien Lauf lassen. Joe Grisham veränderte seine Haltung nicht. Er wollte seiner Tochter Trost geben, und deshalb musste er bei ihr bleiben und sie im Arm halten. Er war kein Zeuge dessen gewesen, was hier geschehen war. Aber er hatte nicht vergessen, dass er Peter Blaine zu seiner Tochter gebracht hatte.
Er war bei ihr gewesen, und deshalb musste er die Schuld bei ihm suchen. Cora weinte noch immer. Sie drückte sich fest gegen ihren Vater, schämte sich sogar wegen ihrer Schwäche, doch das ließ zum Glück nach, und sie richtete sich auf. Joe ließ sie los. Er reichte ihr ein Taschentuch, mit dem sie die Tränen abwischen konnte.
»Bitte, Kind, es ist vorbei. Ich bin jetzt bei dir.«
Cora zog die Nase hoch. »Ja«, flüsterte sie und knüllte das Taschentuch zusammen, »das bist du. Aber du bist auch zu spät gekommen. Du hättest bei mir bleiben sollen. Leider hast du mich mit diesem Schwein Blaine allein gelassen…«
»Hat er dir etwas angetan?«
»Ja.«
»Bitte, was?«
.Cora musste einige Male ansetzen, um die Worte auszusprechen. »Er hat mich geschlagen. Nur einmal. Das hat gereicht. Es war so schlimm, so unerträglich. Ich habe mich auf dem Boden gekrümmt. Und er hat Drohungen ausgesprochen.«
»Gegen wen? Gegen dich?«
»Auch, nur später. Erst hat er nur Mike Rander gemeint.«
Joe Grisham richtete sich auf. Er versteifte. »Das ist doch dieser Fremde, mit dem du dich getroffen hast.«
»Richtig.«
»Und weiter?«
»Wenn Mike noch mal hier auftaucht, soll er getötet werden. Das war das Fazit.«
Joe Grisham sagte nichts. Er trat aus der Nähe seiner Tochter weg und starrte auf die Wand.
Cora richtete sich wieder auf. Sie wischte über ihre Augen. Der Blick fiel auf den Rücken ihres Vaters. Aus dieser Haltung las sie ab, dass er nicht unbedingt voll auf ihrer Seite stand.
»Kannst du mir nicht mehr ins Gesicht sehen?«
»Das hat damit nichts zu tun.«
»Womit nicht?«
Auch jetzt erhielt sie keine direkte Antwort. Er kam wieder auf ihren Besucher zu sprechen. »Es ist durchaus möglich, dass Blaine recht gehabt hat.«
»Was?«, keuchte sie. »Er hat dich schützen wollen.« Cora musste plötzlich lachen.
»Das kann doch nicht wahr sein! Schützen wollen! Er hat mich niedergeschlagen!«
»Das ist schlimm.«
»Und etwas anderes sagst du nicht dazu? Du bist mein Vater! Hast du das vergessen?«
»Nein, das habe ich nicht. Das werde ich auch nicht vergessen.« Erst jetzt drehte sich Grisham wieder um und schaute seine Tochter mit einem traurigen Blick an. Er sprach mit leiser Stimme. »Manchmal gibt es Dinge, die kann man nicht verstehen, obwohl sie dazugehören. So sollte man die Dinge sehen.«
»Auch den Schlag?«
»Leider, mein Kind.«
»Hör auf, Vater. So etwas kannst du nicht glauben und…«
Er unterbrach sie. »Es tut mir leid, aber du bist wohl in schlechte Gesellschaft geraten.«
Cora fühlte sich wie vor den Kopf gestoßen. Sie glaubte, sich im falschen Film zu befinden, und hatte Mühe, ihre nächsten Worte zu finden.
»Das ist doch nicht möglich. Meinst du Mike Rander mit der schlechten Gesellschaft?«
»Wen sonst?«
Cora drehte fast durch. Sie hatte Mühe, sich zusammenzureißen.
»Mike Rander liebt mich!«, keuchte sie. »Und ich liebe ihn, verstehst du das?«
»Das ist ja das Schlimme.«
»Wieso schlimm?«
Joe Grisham schüttelte den Kopf. »Du gehörst nicht-zu ihm. Du gehörst zu uns. Ja, du bist ein Teil unserer Gemeinschaft. Mit der Liebe ist das so eine Sache. Du musst sie in diesem Fall vergessen. Sie wird zurückkehren, und du wirst dich an einen anderen Mann gewöhnen müssen.«
»Das will ich aber nicht!«
Joe schüttelte den Kopf. »Manchmal wird man nicht gefragt und muss einfach nur tun, was der Allgemeinheit zugutekommt. Wir können es uns nicht erlauben, Fremde unter uns zu wissen.«
»Ja, Vater, ja.
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