1661 - Der Torwächter
Das weiß ich jetzt. Ich habe es nicht richtig glauben wollen. Nun bin ich überzeugt. Sehr sogar. Die Gemeinschaft hat Angst. Ist das nicht so? Sie will keine Fremden in ihren Reihen haben. Hier wird schon seit Jahren alles vertuscht und unter den Teppich gekehrt. Es ist zum Kotzen, das sage ich dir. Ich kann es nicht mehr hören und auch nicht in dieser Unfreiheit leben. Tut mir leid, dass ich dir das sagen muss.«
»Du bist sehr stur, Kind!«
»Ha, ist das ein Wunder? Das habe ich von dir! Und ich werde mich auch nicht ducken wie meine Mutter. Es ist mir egal, was hier alles abläuft. Ich will nur meinen eigenen Weg gehen. Und ich lasse mich von keinem Menschen daran hindern. Hast du das verstanden?«
»Ich habe es gehört.«
»Gut. Dann werde ich dir auch noch sagen, dass ich von Mike Rander nicht lassen werde. Er und ich, wir gehören zusammen. Und ich werde dieses verfluchte Kaff hier verlassen.« Sie wedelte hektisch mit ihren Armen. »Hier leben doch nur Ignoranten. Das hier ist eine Welt, die es heute gar nicht mehr geben darf. Sogar ein Torwächter!« Sie winkte heftig ab. »Was habe ich mit dem Mythos zu tun?«
»Es ist kein Mythos.«
»Dann existiert er also?«
»Ja.«
»Und wo?«
Joe Grisham schüttelte den Kopf.
»Du sollst akzeptieren, dass es ihn gibt. Wir brauchen ihn. Wir sind auf ihn angewiesen, und umgekehrt ist es ebenso.«
»Hast du ihn denn gesehen?«
»Das habe ich.«
»Wie schön. Und wo?«
Der Mann schüttelte den Kopf. »Nicht jetzt, meine Liebe. Später. Du bist noch nicht reif dafür.«
»Später bin ich nicht mehr hier.« Sie nickte. »Ja, Vater, ich werde von hier verschwinden und ein anderes Leben führen. In diesem Kaff habe ich nichts mehr zu suchen.«
Joe Grisham sah seine Tochter länger an als gewöhnlich. Dann fragte er mit leiser Stimme: »Ist dir diese Antwort ernst gewesen?«
»Sehr ernst.«
»Das ist nicht gut, Kind.«
»Wieso denn?«
»Wir haben hier alle unser Paket zu tragen, und auch du gehörst zu dieser Gemeinschaft. Man kann hier nicht einfach weglaufen.«
»Ich gehörte zu der Gemeinschaft, Vater. Das ist jetzt vorbei. Ich gehe bald meinen eigenen Weg und den nicht allein. Ich bin alt genug, um für mich selbst zu entscheiden, und das habe ich getan. So einfach ist das.«
»Ich glaube nicht, dass alle aus dem Dorf hieran Gefallen finden. Daran solltest du denken.«
»Hört sich wie eine Drohung an.«
»Es ist nur ein Rat, nicht mehr.«
»Und auf den verzichte ich. Ich bin längst erwachsen und muss nicht mehr gegängelt werden.«
Grisham schaute Cora noch intensiver an und flüsterte: »Was ist nur aus dir geworden, Kind?«
»Jemand, der seinen eigenen Kopf hat. Ich habe mich abgenabelt. Ich will in dieser furchtbaren Enge nicht mehr leben. Das hat nichts mit dir oder Mutter zu tun. Ich muss einfach weg, denn hier gehe ich ein wie eine Blume ohne Wasser.«
»Kein Zurück mehr?«
»So ist es, Vater.«
Joe Grisham ballte die Hände zu Fäusten. Danach drehte er sich lang-. sam um und schüttelte dabei den Kopf wie jemand, der alles nicht begreifen konnte. Er ging auf die Tür zu. Cora schaute wieder auf seinen Rücken. Sie hätte ihn gern aufgehalten und noch so viel sagen oder fragen wollen. Aber sie fand nicht die richtigen Worte.
Ihr Vater wollte das Zimmer verlassen. Zumindest sah es so aus, und damit rechnete Cora auch. Allerdings irrte sie sich, denn er blieb vor der Tür stehen und schien es sich noch mal überlegt zu haben. Grisham drehte sich trotzdem nicht zu seiner Tochter um. Er hob stattdessen den rechten Arm und klopfte gegen die Tür. Cora wusste nicht, was das zu bedeuten hatte. Eigentlich wollte sie nachfragen, aber dazu war es zu spät, denn von der anderen Seite her wurde die Tür geöffnet. Dort hatte jemand gestanden, für den das Zeichen bestimmt gewesen war. Joe Grisham trat zur Seite.
Er machte Platz für Peter Blaine, der grinsend das Zimmer erneut betrat…
***
Cora musste nichts erklärt werden, sie wusste Bescheid, und die Tatsache empfand sie wie einen zweiten Schlag, der allerdings seelische Schmerzen hinterließ. Blaine grinste breit, bevor er fragte:
»Du hast sie also nicht umstimmen können - oder?«
»So ist es.« Bei der Antwort hatte sich Joe nicht getraut, seiner Tochter ins Gesicht zu sehen.
Das kann nicht wahr sein! Ich will es nicht glauben. Mein Vater und Peter Blaine!
Die beiden sind Partner. Sie halten zusammen. Jeder in diesem verfluchten Kaff deckt jeden. So etwas durfte doch nicht sein,
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