1661
Mazarin mich seinerzeit werfen ließ, war ein Mann mein Zellengenosse, dessen wahren Namen ich niemals erfahren habe«, erklärte Gondi. »Er nannte sich Naüm. Wir hatten genug Zeit, uns kennenzulernen, und ich kann sagen, dass der Mann außerordentlich gebildet und vertrauenswürdig war. Bei mehreren Gelegenheiten konnte ich mich von der Schärfe seines Verstandes und der Wahrheit seiner Aussagen überzeugen. Naüm war krank. Als er sein Ende nahen sah, wünschte er mir ein Geheimnis anzuvertrauen. Durch wessen Vermittlung, ist mir unbekannt, aber er sagte mir, dass er gegen eine große Geldsumme Kardinal Mazarin außergewöhnliche Schriftstücke übergeben habe. Kurze Zeit später war er verhaftet worden. Er war davon überzeugt, dass der Kardinal ihn aus dem Weg räumen wollte. Kurz bevor er starb, offenbarte mir der arme Mann, wo er sein Geld versteckt hatte. Dieses Sümmchen hat mir dazu verholfen, nach Rom zu fliehen«, ergänzte Paul de Gondi. Augenscheinlich war er immer noch glücklich darüber, dass er Mazarin ein Schnippchen geschlagen hatte.
»Und?«, unterbrach ihn Colbert, »was stand in jenen ›außergewöhnlichen‹ Schriftstücken?«
»Seiner Ansicht nach handelte es sich um die Formel, mit deren Hilfe sich ein verschlüsseltes Manuskript dechiffrieren lässt, und zwar ein Manuskript, das die Fundamente des Staates und der Heiligen Kirche infrage stellt. Mehr weiß ich nicht darüber. Naüm konnte mir nicht mehr sagen, da die Krankheit ihm die meiste Zeit das Bewusstsein raubte. Naüms Name dürfte Euch aus der Buchhaltung des Kardinals bekannt sein«, meinte der Erzbischof mit einem leichten Lächeln.
Colbert wusste nicht, was er antworten sollte. Tatsächlich erinnerte er sich, dass er den merkwürdigen Namen nebengroßen Geldsummen in den privaten Büchern des Kardinals gesehen hatte. Er hatte Mazarin um Aufklärung gebeten, aber niemals eine Antwort erhalten. Der Erste Minister hatte sich mit der Anweisung begnügt, er möge die Summe unter der Rubrik »Besondere Dienste für Seine Majestät« verbuchen. Nach und nach wurde ihm nun alles klar. Die Angst des Kardinals, als er vom Verschwinden der Papiere erfuhr – hing sie mit dem Verlust des Geheimnisses zusammen, das er einige Jahre zuvor für teures Geld von Naüm gekauft hatte?
Der Erzbischof weiß mehr von der Sache, als er mir freiwillig mitteilen will, dachte Colbert. Mehr und mehr war er davon überzeugt, dass Gondi das Netzwerk der Devoten von Rom aus lenkte und zweifellos hinter dem Diebstahl in den Privatgemächern des Kardinals steckte.
»Vielen Dank für Euer Vertrauen, Eure Eminenz«, sagte Colbert mit einer Stimme, die schmeichelhaft klingen sollte, »ich werde Euer getreuer Vermittler beim König sein. Ich kann ermessen, wie viel das Königreich zu gewinnen hat, wenn es wieder über einen bedeutenden Mann wie Euch verfügt. Ich werde dafür sorgen, dass unsere Unterhaltung Früchte trägt.«
Als er diese Sätze hörte, lächelte Paul de Gondi und dachte, dass er ins Schwarze getroffen hatte.
Nachdem er sich an der Tür von Kardinal de Retz verabschiedet hatte, stieg Colbert in seine Karosse. Während sie sich in Bewegung setzte, betrachtete er die Umrisse der Hauptstadt, die sich in der Ferne abzeichneten. Er sagte sich, dass der Traum von einer triumphalen Rückkehr an den Hof für den Erzbischof von Paris nun vielleicht endlich Wirklichkeit werden könnte.
Saint-Mandé, Palais von Nicolas Fouquet
Sonntag, 10. April, am Abend
»Hast du das gesehen, Louise? Die Kastanienbäume blühen schon!«
Louise de La Vallière lehnte sich auf ihrem Platz in der Kutsche weit vor. Die Wange an die Wagentür gepresst, schaute sie nach den Blüten, deren Weiß in den letzten Sonnenstrahlen noch viel leuchtender erschien. Den Zoll von Vincennes hatten sie bereits passiert und fuhren nun weiter durch die Pariser Vororte. Mit Einbruch der Dunkelheit wehte ein kühlerer Wind, der die Insassen der Karosse frösteln ließ.
Der Frühling ist da, dachte Louise, mein erster Frühling in Paris. Obwohl sie es nicht wollte, musste sie immerzu an den König denken. Sie versuchte sich den Pavillon von Versailles in dieser Jahreszeit vorzustellen …
»Louise, träumst du?«
Die junge Frau fuhr zusammen, was ihre Nachbarin zum Lachen brachte. Aude de Saint-Saveur, die wie sie Gesellschaftsdame der künftigen Schwägerin des Königs war, zeigte mit dem Finger auf die Lichter, die auf der linken Seite des Wagens aufgetaucht waren.
»Schau,
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