1661
verändert hat. Simon Petrus hat die Texte gekürzt. Er hat sie bereinigt und eine neue Fassung diktiert, diejenige, die wir heute kennen. Dann hat er die Originalfassungen in einer Amphore verschlossen. Und zwölf Jahrhunderte lang hat niemand etwas davon gewusst. Bis ein paar Kreuzritter unterwegs nach Syrien am Ufer des Sees Genezareth anhielten und in einer Grotte Schutz suchten und dort eine Amphore fanden. Zufällig war unter ihnen ein Gelehrter, der Aramäisch sprach. Dieser Gelehrte nahm sich Monate später in seinem Kloster in Jerusalem die Zeit, die auf Papyrus geschriebenen Texte zu entziffern. Trotz des Schreckens, der ihn bei der Lektüre befiel, und nachdem er tausend- und abertausendmal überprüft hatte, ob seine Augen ihn nicht täuschten, fand der Gelehrte schließlich den Mut, seine Entdeckung dem Ordenskapitel zu offenbaren. Der Gelehrte war gleichzeitig Soldat. Sein Orden war der der Templer. Und die Urschriften haben einen Namen erhalten: das Fünfte Evangelium. Dies ist das Geheimnis, dessen Bewahrer Euer Vater war. Wie ich, wie andere, war er der Bewahrer des Fünften Evangeliums und bereit, alles zu opfern, damit das Geheimnis nicht in unwürdige Hände fiele, die damit Böses anrichten könnten. Seine unbedachte Enthüllung könnte uns in eine entsetzliche Situation bringen. Wie andere vor ihm hatte Euer Vater einenEid geschworen, das Geheimnis zu wahren und abzuwarten, bis die Zeit reif wäre, es jemandem zu offenbaren, der in der Lage wäre, die Botschaft seinem Volk zu überbringen und der Manipulation des Petrus abzuschwören.«
Wie betäubt hing Gabriel an Fouquets Lippen.
»Aber die Schriften, wo sind sie? Habe ich sie in meinen Händen gehabt?«
Fouquet lächelte.
»Nein. Ein unglaublicher Zufall hat es gewollt, dass Ihr in den Besitz des Schlüssels gelangt seid, der den Inhalt erschließt. Um das Geheimnis zu schützen, haben die Ritter es nämlich versteckt. Nachdem sie den Text übersetzt hatten, haben sie ihn zwischen die Linien eines jeden Papyrusblatts geschrieben, die Petrus einst für seine zensierte Fassung benutzt hatte. Dann haben sie den Kodex in ein Bad mit Spezialtinte getaucht, die ihn unleserlich machte. Diese Kunst hatten sie von einem arabischen Gelehrten gelernt. Alle Blätter des Kodex sind daher schwarz, auf beiden Seiten. Und nur wenn man den Kodex in einen ganz bestimmten Pflanzensud taucht, nur dann verschwindet die Einfärbung, und es erscheint der wirkliche Text, auf Aramäisch und Latein. Überdies muss diese Prozedur zu einer bestimmten Stunde an einem bestimmten Tag stattfinden, der nur einmal im Jahr wiederkehrt. Auf dem Blatt, das Euer Vater verschlüsselt hat, ist die Formel angegeben, woraus sich der Absud zusammensetzt. Die Geschichte dieser Formel ist fast so abenteuerlich wie die Geschichte des Kodex selbst. Sie ging verloren, als Philipp der Schöne den Sitz der Templer zerstörte. Niemand wusste, was mit ihr geschehen war. Der Kodex, natürlich unlesbar, wurde in Rom sorgfältig versteckt. Wir waren nur die Bewahrer einer Erinnerung, die wir von Generation zu Generation weitergaben, bereit zu handeln, sollten wir die Formel wiederfinden. Das ist zu Zeiten der Aufstände der Fronde passiert, vor gut fünfzehnJahren. Die Geheimformel ist bei einem genuesischen Kaufmann aufgetaucht. Wie sie dorthin gelangte, weiß man nicht genau. Bei der Zerstörung des Ordenssitzes hat einer unserer Brüder die Formel, bevor er umgebracht wurde, in seiner Verzweiflung einem Diener übergeben, der nicht einmal wusste, was ihm da anvertraut wurde. Er befahl ihm, nach Italien zu flüchten und dort mit einem der Unseren Kontakt aufzunehmen. Was jener nicht tat. Vielmehr hat der Unglückliche versucht, das, was er besaß, zu Geld zu machen, wenn auch ohne Erfolg. Er starb elendig um 1350. Es ist wahrscheinlich, dass die Formel drei Jahrhunderte auf einem Dachboden überdauerte, bevor der Zufall sie in einer Kiste nach Genua brachte. Sie befand sich dort zusammen mit anderen geheimen Papieren aus dem Besitz der Templer. Der Genuese hatte Euren Vater zwanzig Jahre zuvor kennengelernt. Sie hatten in der französischen Armee gemeinsam gegen die Habsburger gekämpft. Sie waren in brieflichem Kontakt geblieben, und der Kaufmann kannte das Interesse Eures Vaters an der Geschichte des Templerordens und schickte ihm die brisanten Schriftstücke, ohne sich auch nur im Entferntesten vorstellen zu können, um was es sich handelte. Euer Vater erkannte ihre Bedeutung sofort.
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