1661
Colbert erschöpft und rieb sich seine geschwollenen Augen. Mit der ihm eigenen Sorgfalt hatte er einen Beleg nach dem anderen geprüft, die der todkranke Kardinal ihm vor seiner Abreise nach Vincennes übergeben hatte. Sein Arbeitszimmer war sehr hell, da es zwei große Fenster mit einer wunderbaren Aussicht auf die Gärten hatte. Jetzt, Ende Februar, wurde es draußen jedoch noch früh dunkel, weshalb er um einige zusätzliche Kerzenleuchter gebeten hatte. Hinter ihm knisterte das Feuer im Kamin und wärmte seinen Rücken. Von Natur aus verfroren, waren seine Glieder dennoch, nicht zuletzt wegen der fehlenden Bewegung, ganz steif. Der treu ergebene Mitarbeiter Seiner Eminenz, der es verstanden hatte, sich im Laufe der Jahre unentbehrlich zu machen, war sich sehr wohl darüber im Klaren, dass er nicht mehr viel Zeit zur Verfügung hatte. Schlimmer noch: Hin und wieder überkam ihn das ungute Gefühl, dass sich seit einiger Zeit eine kalte, unheilvolle Hand in seine Schulter krallte und ihn jeden Tag ein bisschen stärker niederdrückte. Alles lastet bald auf meinen Schultern, dachte er dann voller Erregung, in die sich auch Angst mischte.
Als Mazarin beschlossen hatte, seinen Nachlass zu ordnen, bevor die Krankheit ihn endgültig besiegte, hatte sich Colberteinmal mehr durchgesetzt und widmete sich nun ganz allein dieser ermüdenden Aufgabe, aus deren Erfüllung er zahlreiche Vorteile zu ziehen hoffte. Sein Ehrgeiz war zwar nicht für jedermann sichtbar, aber deswegen nicht weniger brennend. Er hatte sich einen kühnen Plan zurechtgelegt, wie er schnell an die Spitze des Staates gelangen konnte. Eine wichtige Schlacht würde sich am Krankenlager des Ersten Ministers entscheiden, Colbert war sich dessen wohl bewusst. Da er rechnen konnte, war er wie beim Schachspiel seinen Kontrahenten einen Zug voraus: Seine Ergebenheit dem Kardinal gegenüber zielte nämlich in Wirklichkeit auf den jungen König.
»Herein!«, rief er, ohne die Augen zu heben, als es an die Tür seines Arbeitszimmers klopfte.
»Monsieur Charles Perrault bittet, empfangen zu werden«, verkündete ein Diener.
»Er möge eintreten«, antwortete Colbert, wartete er doch schon sehnlichst auf die Ergebnisse der Untersuchung, die er nach dem Brand in der Bibliothek des Kardinals angeordnet hatte.
Mit tiefen Verbeugungen betrat Charles Perrault Colberts Kabinett. Der Anwalt zeigte sich stets sehr ehrerbietig, trotz eines mürrischen Charakters, der in krassem Widerspruch zu seinem unbestrittenen schriftstellerischen Talent stand, brillierte er in den Pariser Salons doch als vielseitiger, höchst unterhaltsamer Literat.
»Also, Perrault, wie weit seid Ihr gekommen?«, fragte Colbert ungeduldig.
»Die Dinge sind ziemlich verworren, Monsieur, um es vorsichtig auszudrücken. Wir ermitteln in verschiedene Richtungen. Als Erstes haben wir den Jungen identifiziert, der auf die Bühne des Theaters im Palais-Royal gestürzt ist. Es handelt sich um einen Waisenjungen mit dem Beinamen ›der Kleine‹, der meistens im Armenhaus übernachtete und dafür bekanntwar, geschickt mit dem Messer umzugehen. Seine Kleider und die Kette mit den Anhängern, die er um den Hals trug, lassen mich vermuten, dass er einer Gruppe von Glaubensfanatikern angehörte.«
»Vermutet Ihr es oder
wisst
Ihr es?«, unterbrach ihn Colbert unwirsch, da ihm Perraults unklare Formulierungen auf die Nerven gingen.
»Es ist meine feste Überzeugung, Monsieur, die im Übrigen durch Toussaint Roze’ Aussage gestützt wird.«
Womit wir wieder bei den Frömmlern sind, dachte Colbert grübelnd.
»Unsere Ermittlungen erstrecken sich ebenfalls auf das Theater im Palais-Royal, durch das die Einbrecher entkommen konnten. Ich habe es vom Keller bis ins Dachgestühl durchsuchen lassen, bis jetzt allerdings ohne Ergebnis.«
»Bringt das Komödiantenpack zum Sprechen«, zischte Colbert, der immer wütender wurde.
»Zwei Tage lang haben wir wirklich jeden vernommen. Und einige habe ich beschatten lassen. Vor allem einen gewissen Gabriel, der erst vor kurzem zu Molières Truppe gestoßen ist und den Posten eines Sekretärs innehat. Sein Verhalten kam mir höchst auffällig vor. Letzten Sonntag hat er sich vor dem Bühneneingang unter einem lächerlichen Vorwand mit Berryer geschlagen.«
Als er den Namen »Berryer« hörte, zog Colbert die Augenbrauen hoch. Er kannte Berryer nur zu gut, hatte er ihm doch bei gewissen heiklen, aber durchaus rentablen Geschäften schon mehrmals als Strohmann gedient.
Weitere Kostenlose Bücher