1667 - Die Früchte des Wissens
zu wenden, so war es wohl seine einzige Chance.
Niisu ging mit hinfälligen Schritten noch eine .Weile geradeaus. Die erste Möglichkeit aber, die er sah, nutzte der Nomade, um den Weg nach oben einzuschlagen. Von der Schneegrenze trennten ihn tausend Meter Höhenunterschied. Unter den gegebenen Umständen bedeutete das einen ganzen Tag Kletterei. Und ein solcher Tag war gleichbedeutend mit dem Ende. Doch zum erstenmal, seit er das Gebirge Rok betreten hatte, fand sich Niisu im Glück. Er stieß auf eine flach ansteigende Rinne im Fels, durch die sich während der Schneeschmelze Wasser ins Tal ergoß.
Nach zwei Stunden in der Rinne brannten seine Knie und seine Handflächen wie Feuer.
Immer wieder ließ er sich auf alle viere nieder. Zum Nachmittag hin traf er auf die ersten noch vereinzelten Schneefelder. Niisu hatte keine Ahnung, weshalb seine Arme und Beine noch funktionierten. Sein Kopf jedenfalls barg nichts als eisige Leere. Nicht nachdenken! Vielleicht liegt hier das Geheimnis... Vielleicht ist das der Weg, den ich gehen muß.
Bis zum Abend kletterte er weiter, und jeder Meter entwickelte sich zur Qual.
Niisu legte eine Pause ein. Es wurde dunkel. Die ganze Welt hüllte sich vor seinen Augen in einen freundlichen, abendlich getönten Schleier; nur nicht das ferne Jenseits-Land, in das allein die Frucht der Grenzländer einen Nomaden führen konnte.
Mit beiden Händen kratzte Niisu weißen Schnee zusammen. Seine Finger waren ohne Gefühl. Dennoch schaffte er es, den Schnee in seinen Wasserbeutel umzufüllen.
Schwieriger war es, die Schlaufen zuzuziehen, damit der Beutel dicht war, aber auch das brachte er nach einiger Zeit zustande. Niisu rollte sich zusammen. Das kalte Paket preßte er an seine Brust, die Beine zog er an den Körper.
*
Nicht die Tatsache, daß er inmitten gleißender Helligkeit erwachte, war das Wunder, sondern daß er überhaupt erwachte.
Zwischen Brust und Beinen hatte sich der Beutel erwärmt, und der Schnee war geschmolzen. Niisu fühlte sich fast tot. Mühsam kam er auf die Knie, atmete stoßweise.
Die Sonne hatte sich am Himmel zu gleißender Schönheit erhoben, doch in der Höhe des Gebirges Rok bot sie keine Wärme, sondern warf nur harte Schatten.
Niisu öffnete den Wasserbeutel. Mißtrauisch schnüffelte er, hoffte inständig, daß sich Wasser darin befinden möge. Solange er die rote Farbe nicht erklären konnte, die ein Teil des Schnees aufwies... Er ließ kleine Schlucke durch seine Kehle rinnen. Die Feuchtigkeit erfrischte ihn. Nur nicht zuviel, sonst stülpte sich der Magen um.
Niisu versuchte gar nicht erst, Eßbares zu finden.
Die einzige Chance, die er noch hatte, war die Frucht. Also nahm er den Rest des Aufstiegs in Angriff. Innerhalb einer Stunde arbeitete sich der Nomade bis zur Schneegrenze vor. Hier befand er sich auf dem Dach der Welt Canaxu; an dem Ort, den er niemals hatte sehen wollen und der viel zu eisig kalt war, um darin zu sterben.
Keine Spur von Leben.
Oder doch? Dort, im Schatten der Felsen, wuchsen dieselben weißen Pflanzen, die er schon weiter unten entdeckt hatte. Dazu kamen Büschel von einem grünen Kraut, das zu kosten er sich nicht getraute. Und, was noch wichtiger war: Niisu entdeckte erneut Spuren im Schnee. Seine Fußsohlen brannten, als er über rauhen Fels hinaufkletterte.
Dann aber war er sicher, daß nicht der Hunger ihm eine Phantasie eingab, sondern daß er tatsächlich Spuren von Leben in dieser Höhe entdeckt hatte. Tiere von der halben Größe seines Schädels, so dachte er. Entdecken jedoch konnte er sie nicht, sosehr er sich auch umschaute.
Vorsichtig kletterte er die paar Meter wieder hinunter. Von hier aus kam er leicht weiter, einfach geradeaus, in derselben Richtung, die er die ganze Zeit gehalten hatte.
Der niedrige Luftdruck machte ihm zu schaffen. Niisu atmete fast doppelt so schnell wie im Land Boor und im Land der großen Seen.
Womöglich war es der Mangel an Sauerstoff oder die fehlende Nahrung - aber irgend etwas gab ihm ein, er befinde sich auf dem richtigen Weg. Vielleicht war es derselbe Instinkt, den sonst nur die Frauen ihrer Rasse entwickelten. Was es auch war, es hielt ihn am Leben. Sonst hätte er sich spätestens gegen Mittag hingelegt und wäre nicht mehr aufgewacht.
Seine Hände fingen an, zu bluten. Er rieb die Wunden mit weißem Schnee ab und hoffte, daß sie sich nicht an den fremden Giftstoffen des Gebirges Rok entzündeten.
Und eine Stunde später erreichte er mit taumelndem Gang
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