1667 - Die Früchte des Wissens
„Könnt ihr mich verstehen, Seligu?
Kommt, kommt zu mir..."
Als Niisu den Kopf hob, waren sie von einer Sekunde zur anderen blitzartig verschwunden.
Mühsam kam er auf die Beine. Die Wurzel hatte nicht nur in seinem Schädel Verwirrung angerichtet, ihm vom Gebirge Rok, seinen Eigenarten und Bewohnern Kenntnis gebracht, sondern hatte auch seinem Magen Nahrung gegeben. Er war sicher, daß er überleben konnte.
An die Arbeit.
Der Untergrund war rutschig und gab unter seinen Füßen nach. Als er wieder oben stand, inmitten der pfeifenden, eisigen Böen, und sich zur linken Hand der Berg kilometerweit absenkte, fühlte sich Niisu eins mit dem Gebirge. Endlich - alles, was ringsum geschah, sah er nun mit anderen Augen. Es war, als habe er mit dem Verzehr der Frucht einen tödlichen Initiationsritus bestanden.
Niisu wanderte in Richtung Sonnenaufgang. Eine gute Distanz legte er zurück, immer an der Grenze zwischen Schnee und blankem Fels. Einmal war ihm, als bemerke er am Himmel Vögel - die Tarrok, an die man niemals herankam, es sei denn als Leiche. Und da war noch mehr. Ringsum ertönte leises Geraschel. Er konnte nicht erkennen, was die Ursache der Geräusche war. Doch der Nomade erinnerte sich, Geräusche dieser Art schon lange Zeit vernommen zu haben. Nur hatte er sie stets als Einbildung abgetan oder als Produkt des Windes, der sich in den weißen Gräsern fing. Heute wußte er es besser. Und als er die Mühe auf sich nahm, nach der Quelle dieser Geräusche zu suchen, fand er die Spur graziler Pfoten. Überall dasselbe - er wurde beobachtet.
Aber das konnte ihm nur recht sein.
Niisu machte eine kleine Höhle ausfindig, drei Meter lang und halb so hoch. Er kroch hinein und vergewisserte sich, daß kein zweiter Eingang existierte, nicht einmal Spalten im Fels. Es war perfekt. Nun begann die Arbeit. Mit bloßen Händen transportierte er Schnee heran, Ladung für Ladung, indem er mindestens hundertmal zu einer Wehe oberhalb der Höhle hinaufstieg. So entstand vor der Öffnung ein großer Haufen. Niisu kroch in die Höhle und preßte den Schnee gegen die Wände. So oft wiederholte er den Vorgang, bis jeder Zentimeter mit Schnee ausgekleidet war, bis selbst an der Decke lückenloses Weiß haftete.
Ein Drittel des Schnees behielt er dennoch übrig.
Niisu ließ den Haufen vor der Höhle. Er würde ihn später brauchen.
Ab und zu horchte er; und stets vernahm er das Getrappel kleiner Füße. Die Seligu dachten nicht daran zu verschwinden. Viel zu groß war ihre Neugierde.
Der nächste Schritt bestand darin, die Öffnung mit Geröll sorgfältig zu verschließen.
Und nun der zweite Teil der Plackerei: Niisu wußte, daß die Nahrung der Seligu aus dem weißen Gras bestand, das er oft gesehen hatte. In der Nähe befanden sich reiche Vorkommen. Für die kleinen Tiere war es schwierig, harte Gräser auszureißen; doch das mußten sie, wollten sie die Stiele aufschlitzen und ans nahrhafte Mark gelangen.
Für Trepecco-Nomaden war das Mark ein tödliches Gift. Lange Qualen mit einem furchtbaren Tod am Ende... Er war froh, daß er es nicht gekostet hatte.
Zehn Meter weiter oben das erste Gras: Zwischen mannshohen Felsen wuchs das Zeug büschelweise. Er achtete darauf, nicht mit den Bruchkanten in Kontakt zu kommen.
Nicht einmal die Berührung mit dem Gift vertrug er, also war höchste Vorsicht angesagt.
Niisu rupfte das Gras restlos von den Felsen. Er bildete einen Haufen auf seinem ausgeleerten Werkzeugsack und trug es zur Höhle hinunter.
Die Seligu waren überall.
Er konnte sie huschen hören, und ihre wispernde, primitive Sprache schmeichelte seinen Ohren.
Niisu öffnete die Höhle. Deutlich sichtbar für die unsichtbaren Gäste warf er das gerupfte Gras hinein - nicht ohne die Öffnung anschließend sorgfältig zu blockieren.
Die einzelnen Steine waren viel zu schwer für einen Seligu. „Seht ihr?" fragte er laut. „Da drin ist Nahrung. Genug für eine Woche. Genug für euch alle zusammen."
Seine Stimme hallte nicht. In dieser Höhe verpuffte ihre Kraft, und nur die scharfen Laute trugen mehr als ein paar Meter weit.
Der nächste Gang brachte dieselbe Beute, wieder einen Sack voller weißer Gräser, und wieder warf er das Bündel in die Höhle. Mochten die Seligu vor Neugierde zerplatzen; genau das beabsichtigte der Nomade. Am Rand des Schneehaufens, dessen Rest er aufgetürmt hatte, fand er jede Menge Spuren. Doch die Tiere selbst bekam er kein einziges Mal mehr zu Gesicht. Sie waren vorsichtig.
Weitere Kostenlose Bücher