1669 - Der Kyberklon
Kapital schlagen.
Natürlich wurde dieses Thema an Bord ausführlich diskutiert. Während des wochenund monatelangen ereignislosen Hyperraumflugs bestand dazu ausreichend Gelegenheit. Die allgemeine Meinung war, daß weniger Voltagos Einfluß, sondern eher der Einfluß der „Phänomen-Scheibe" für diesen einmaligen Sonderfall verantwortlich gewesen war.
Allmählich aber erstarb das allgemeine Interesse an den Zwillingsschwestern und dem Kyberklon wieder; die Mannschaft wandte sich den Routineaufgaben zu und ging kurzweiligen Vergnügungen nach, um die Freizeit totzuschlagen.
Jagomir Fremon war wohl die einzige Ausnahme an Bord, zumindest die einzige, die er kannte. Je länger er sich mit den Zwillingsschwestern beschäftigte, desto größer wurde sein Interesse an ihnen.
Er sah sie bald nicht mehr als „Spiegelgeborene" und Unsterbliche, sondern als zwei Menschen, die unter ihrer einmaligen Fähigkeit zu leiden hatten. Das war der springende Punkt! Nachdem er das Handikap der Zwillinge von dieser Seite betrachtet hatte, ergab sich eine Lösung dafür wie von selbst.
Es war die einfachste Sache von der Welt. Bisher hatte wohl noch jeder die beiden Frauen nur als Unsterbliche und Auserwählte gesehen, als Spiegelgeborene und Psi-Begabte - und nicht als Wesen aus Fleisch und Blut.
*
Nadja stieß ihre Schwester mit einem Lächeln an und zwinkerte ihr kurz zu. „Da ist der Mann wieder. Ich glaube, der gute Mann beobachtet uns."
„Glaubst du, daß er etwas von uns will? Warum kommt er nicht einfach her und spricht uns an?"
Nadja zuckte mit den Schultern. Ein verschmitztes Lächeln spielte um ihre Lippen. „Wahrscheinlich ist er zu schüchtern, oder er weiß selbst nicht so genau, was er will."
„Hör auf damit, Schwester, er kann sicher nichts dafür", empörte sich Mila; sie mochte es nicht, wenn Nadja abfällig über andere Menschen sprach. Damit stellte sie sich in ein falsches Licht. „Was tut er denn Schlimmes?"
„Er hat sich gesetzt und stochert in seinem Essen herum. Aber er scheint nicht bei der Sache zu sein. Seine Gedanken sind offensichtlich bei uns, so, wie er ab und zu hierherschaut. Ich glaube, wir müssen die Initiative ergreifen."
„Nadja", sagte Mila erstaunt. „Wir können ihn doch nicht so einfach ansprechen."
„An Bord eines Raumschiffes, noch dazu nach einem so langen gemeinsamen Flug, ist man doch schon fast eine Familie, finde ich. Und dieser junge Mann wirkt nicht mal unsympathisch."
Milas hohe, leicht vorgewölbte vincranische Stirn glänzte leicht, ein Zeichen ihres Unbehagens. Ihr war nicht wohl in ihrer Haut, weil sie mit dem Rücken zu dem Mann saß, der Thema ihres Gesprächs war. Sie fühlte sich beobachtet.
Dazu kamen Nadjas Bemerkungen. Es stimmte natürlich, daß ihnen dieser Mann schon einige Male wie zufällig über den Weg gelaufen war und in letzter Zeit immer häufiger zur selben Zeit wie sie die Kantine aufsuchte. Aber wenn er irgend etwas von ihnen wollte, dann war es sein gutes Recht, ihnen ein Gespräch anzutragen.
Er war schätzungsweise vierzig Jahre alt, also höchstens zehn Jahre älter als die beiden, hatte hellbraunes Haar, das er lang trug, teilweise zu mehreren Zöpfen geschlungen. Er war schlank, nicht sonderlich muskulös, wirkte aber dennoch durchtrainiert, hatte einen federnden Gang. Sein Teint war dunkel, die Augen waren grau, das knochige Gesicht wirkte etwas derb...
Mila erschrak' in diesem Moment über sich selbst, daß sie eine so genaue Personenbeschreibung von einem Unbekannten geben konnte, dessen Namen sie bislang nicht einmal kannte. „Los, Schwester, wagen wir doch ganz einfach das Gespräch, wenn er sich schon nicht traut."
Nadja erhob sich mit diesen Worten von ihrem Platz, Mila tat es ihr automatisch gleich.
Seite an Seite gingen sie zu dem Tisch, an dem der junge Mann allein saß. Als er sie kommen sah, blickte er auf und lächelte ihnen freundlich entgegen. „Wir haben den Eindruck, daß du uns schon seit einiger Zeit beobachtest - stimmt das?" fragte ihn Nadja direkt. „Das stimmt in der Tat, und es freut mich, daß ihr das bemerkt habt", antwortete er im Sitzen. Er wies auf die freien Plätze. „Bitte, setzt euch doch einfach zu mir. Mein Name ist Jagomir Fremon. Jagg nennen mich meine Freunde. Ich gehöre zur Technikertruppe von Mariaan ten Segura. Wer ihr beide seid, weiß ich natürlich. Ich habe mich in den letzten Wochen sehr eingehend mit den Informationen über euch befaßt und dann gehofft, euch
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