1672 - Die Insel
des Kreuzes und verspürte erneut einen Schauder, der ihren ganzen Körper erfasste und ihn nicht loslassen wollte. Dann ging sie weg.
Auf dem Weg zur Tür begleitete sie die Stimme des Pfarrers, der seine ersten Gebete murmelte…
***
Lucy McMillan hatte das Gefühl, aus der Kirche zu taumeln, als sie wieder im Freien stand. In ihrem Kopf wirbelten die Gedanken. Sie waren wie Bruchstücke, die sich nicht zu einem Ganzen fanden, und sie selbst kam sich vor wie ein Fremdkörper, als sie die Richtung zum Wasser einschlug, ohne es richtig zu merken. Erst als sie das Klatschen der Wellen gegen die Kaimauer deutlicher hörte, kehrte sie in die Realität zurück. Sie schaute sich um und sah die kleine Mauer, auf der sonst die Alten saßen und sich die Sonne ins Gesicht scheinen ließen, wenn sie mal schien. Diesmal wurde die Mauer zu ihrem Sitzplatz. Sie zog die Schultern hoch, als sie den harten Stein unter sich fühlte.
Der Abend war fortgeschritten, das sah sie, wenn sie den Kopf hob und einen Blick gegen den Himmel warf, über den ein graues Tuch gezogen worden war. Es war fleckig oder löchrig geworden, ein paar helle Flecken malten sich noch in der grauen Farbe ab und weit im Westen, wo das Meer und der Himmel zusammenstießen, war noch ein letztes Glühen der untergehenden Sonne zu sehen.
Für Lucy waren das nicht mehr als Begleiterscheinungen. Sie konzentrierte sich auf etwas anderes. Es war die Insel, der ihr Augenmerk gehörte. Dieses Eiland, das eigentlich ebenfalls in der Dämmerung hätte verschwinden müssen, was allerdings nicht der Fall war. Die Insel war zu sehen.
Und nicht nur das. Sie war sogar gut zu sehen. Man konnte durchaus den Begriff deutlich gebrauchen, und das wiederum war ein Phänomen. Ohne es zu wollen, ballte sie die Hände zu Fäusten. Sie konnte den Blick einfach nicht abwenden, denn das Phänomen war nicht zu übersehen.
Unterhalb der normalen Landmasse leuchtete die Insel auf. Da war ein breiter Rand zu sehen, der ein Licht abgab, das türkisfarben schimmerte, mit einem Stich ins Bläuliche. Knochen, die so leuchteten, waren ein Phänomen. Lucy fand keine Erklärung, und doch meldeten sich ihre Gedanken. Sie musste einfach an ihren Besuch in der Kirche denken. Dort war das Kreuz ein Opfer einer anderen Macht geworden, und wenn sie auf die Insel schaute, dann hatte sie das Gefühl, dass auch dort eine andere Macht eingegriffen hatte.
Waren beide verwandt? Gehörten beide zusammen? Waren es wirklich Zeichen der Hölle?
Sie hatte keine Antwort darauf, aber sie glaubte, dass der bläuliche Streifen noch höher geworden war. Wenn es stimmte, dann war die Insel wieder ein Stück in die Höhe geschoben worden. Und das von einer nicht erklärbaren Kraft. Lucy ging davon aus, dass sie nicht die einzige Person war, die dieses Phänomen sah. Von den Bewohnern gab es genug, die auch am Abend am Fenster standen, um über das Wasser zu blicken.
Niemand würde etwas sagen. Niemand traute sich. Die Menschen hier hatten nie offen über ihre Probleme geredet, sie hatten alles mit sich selbst ausgemacht. Genau das war jetzt vorbei. Nun mussten sie sich den Phänomenen stellen und sich sogar zur Wehr setzen.
Aber wer sollte ihnen das beibringen? Der Pfarrer bestimmt nicht, und auch Lucy fühlte sich dazu nicht in der Lage, obwohl sie ahnte, dass sie immer mehr im Zentrum stehen würde. Das war nicht zu vermeiden.
Die Insel leuchtete. Für Lucy McMillan war es so etwas wie ein unheimlicher Glanz. Er war eine Botschaft und sie würde sich weiterhin ausbreiten. Wer der Insel jetzt einen Besuch abstattete, musste lebensmüde sein.
Es war mittlerweile dunkel geworden. Jetzt war zu sehen, dass sich lange Dunststreifen um die Insel drehten. Sie erinnerten Lucy an Schals aus Nebel. Ob das etwas zu bedeuten hatte, wusste sie nicht, nur spürte sie, dass sie lange genug auf der Mauer gesessen hatte. Außerdem kroch die Kälte allmählich in ihnen Körper. Sie stand auf und machte sich auf den Rückweg. Kein Mensch begegnete ihr. Das Dorf schien ausgestorben zu sein, als hätten böse Geister es geschafft, die Bewohner in ihre Häuser zu treiben. So allein zu gehen machte keinen Spaß. Sie fühlte sich unwohl und beschleunigte ihre Schritte. Als sie an der Kirche vorbeikam, war dort alles finster. Kein Kerzenlicht schimmerte durch eines der Fenster.
Lucy atmete erst auf, als sie den Weg erreichte, der zu ihrem Haus führte. Das Licht hinter den Fenstern gab einen honigfarbenen Schein ab und sie freute
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