1684 - So grausam ist die Angst
gehören, und es gehen oft stundenlange Vorbereitungen voraus, damit sich der Schamane überhaupt in diesen Zustand hineinversetzen kann. Es ist die wildeste Ekstase damit verbunden, und nicht wenige haben sich überschätzt und sind bei diesen Vorbereitungen gestorben.«
»Was aber Uvalde nicht passieren kann«, sagte ich.
»Ja, das ist wohl wahr. Ihm kann es nicht passieren, weil er der Größte ist. Er ist der Meister aller Geister. Er braucht die Ekstase nicht mehr. Es ist ihm gelungen, zu einem Weltenwanderer zu werden. Einmal hier, dann wieder dort. Und er ist für uns so etwas wie ein Beschützer. Wir vertrauen ihm als Lebende ebenso, wie die Toten ihm ihr Vertrauen schenken. Wir haben ihm die Seele der Verstorbenen anvertraut. Damit haben wir nichts Böses getan und sind nur den alten Regeln gefolgt. Wir haben den Geistern ein Opfer gebracht. Wir überreichten ihnen die Dinge unseres alltäglichen Lebens, und das Blut gehört ebenso dazu, für uns ist es der Träger des Lebens. Reicht das als Erklärung?«
»Ja«, sagte Suko und sprach damit auch in meinem Namen. »Vorausgesetzt, es handelt sich um kein Menschenblut.«
Juri stieß einen Knurrlaut aus und ballte seine knochigen Hände zu Fäusten.
Der junge Mann sprang ihm zur Seite. Er schaufelte sein dunkles Haar zurück und fuhr uns mit scharfen Worten an.
»Nein, das ist nicht das Blut eines Menschen. Für wen haltet ihr uns? Es ist Hühnerblut. Muss ich euch darauf hinweisen, dass in eurem Alten Testament Blutopfer gebracht worden sind? So fremd darf es euch nicht sein.«
»Wer sind Sie?«, fragte ich.
Er holte keuchend Atem. »Ich bin Tamaras Bruder.« Tränen stiegen in seine Augen. »Und ich will, dass es ihr auch im Jenseits nicht schlecht geht. Dafür haben wir Uvalde geholt, und mit seinem Ritual hat er zugleich das Versprechen gegeben, dass dies so sein wird.«
»Gut, dann ist alles klar«, fasste Suko zusammen. Er schaute sich um und sagte: »Aber wo steckt er jetzt? Wir sind gekommen, um mit ihm zu reden. Ihr habt Kontakt zu ihm. Deshalb möchten wir gern von euch wissen, wo er sich aufhält und wie wir an ihn herankommen können.«
Die Forderung hatte Suko gestellt und wir waren gespannt, ob sie auch erfüllt würde.
Nichts tat sich. Keiner redete, niemand bewegte sich. Die Menschen saßen auf ihren Stühlen, und in ihren Gesichtern regte sich nicht ein Muskel.
»Was soll das Schweigen?«, fragte ich und schaute Juri dabei an. »Ist es so schlimm, uns zu verraten, wo er sich befindet? Was habt ihr oder was hat er zu verbergen?«
»Wir verbergen nichts.«
»Das sehe ich anders. Tut mir leid …«
»Er kommt, wann er will. Es ist oft hier, aber er zeigt sich nicht immer. Er hat seinen eigenen Willen, und dabei soll es auch bleiben. Habt ihr das verstanden?«
Das hatten wir. Nur gaben wir uns damit nicht zufrieden.
Suko deutete auf Juri. »Bist du es gewesen, der ihn zur Beerdigung geholt hat?«
»Ja.«
»Dann rufe ihn auch jetzt!«
Der Weißhaarige schüttelte den Kopf. »Das werde ich nicht tun, denn es gibt keinen Grund.«
»Für uns schon.«
»Ihr gehört nicht zu uns. Er weiß das und er kennt euch nicht …«
»Irrtum!«, sagte ich. »Er kennt uns. Ich habe ihn auf dem Friedhof getroffen. Er war plötzlich bei mir, und wir haben sogar miteinander geredet. Aber das reichte nicht. Wir haben noch einige Fragen an ihn, und deshalb suchen wir ihn.«
»Es tut mir leid. Ich kann euch nicht helfen!«
Juri zeigte sich verstockt. Die Antwort hatte sich schon sehr endgültig angehört. Ich war mir noch immer nicht sicher, ob die Leute hier nicht wollten oder nicht konnten. Da traf wohl beides zu, und wenn wir in die Gesichter schauten, dann gab es keines, was keinen abweisenden Ausdruck gezeigt hätte.
Im Laufe der Zeit entwickelt man als Mensch ein Gespür dafür, ob man willkommen ist oder nicht. Das waren wir von Anfang an nicht gewesen, und das hatte sich auch nicht geändert. Wir würden hier weiterhin auf Granit beißen und mussten nach anderen Wegen suchen. Möglicherweise entpuppte sich Rosy Mason als Hoffnungsträger.
Es geschah völlig überraschend. Ich war schon dabei, mich abzuwenden, als ich den Wärmestoß auf meiner Brust spürte.
In diesem Moment wusste ich, dass wir noch bleiben würden …
***
Auch Suko hatte sich bereits bewegt und wollte auf die Tür zugehen. Dabei hatte er mich nicht aus den Augen gelassen und meine Reaktion mitbekommen.
Zu erklären brauchte ich ihm nichts. Wir waren so
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