1688 - Der Killer mit den Mandelaugen
du den Weg zu ihm?«
»Nein!«
»Dann muss ich auch nicht erst groß suchen. Aber ich gebe nicht auf. Erst werde ich dich killen und dann werde ich nach einer neuen Chance suchen. Nach einer Chance, die du bestimmt nicht mehr hast.«
Sie kam noch näher und ging dann auf die Knie nieder. Aus ihren fast toten Augen glotzte sie Shao an, der die Chance zur Flucht durch die Schlange genommen war, denn sie hielt auch weiterhin ihre Beine umschlungen.
Den Fächer hatte Marcia Gay nicht aus der Hand gegeben. Sie schwenkte ihn über Shaos Gesicht und auch über ihren Hals. Shao sah die Spitzen und stellte sich schon darauf ein, dass die Messer ihr die Kehle aufschneiden würden.
Noch war es nicht so weit.
»Deine allerletzte Chance, Chinesin. Rede endlich. Nenne mir den Weg, den ich nehmen muss.«
»Und wenn du mich folterst, ich weiß es nicht. Ich führe mein eigenes Leben, ich habe mit der Sonnengöttin nichts mehr zu tun. Warum kannst du das nicht begreifen?«
»Weil sie keinen im Stich lässt, der zu ihr gehört. Und ich sehe dich als verwandt mit ihr an.«
»Das kann sein, aber das muss nicht stimmen. Ich bin hilflos. Ich beherrsche keine Magie. Wenn es so wäre, dann hätte ich sie längst eingesetzt.«
»Da stimme ich dir sogar zu. Es ist nur dein Pech, dass ich dich deshalb töten muss. Ich will nicht, dass du mir auf den Fersen bleibst. Ich gebe nicht auf, ich werde weiterhin suchen, und ich werde den Fächer auch finden.«
»Er wird dir kein Glück bringen. Nicht Menschen wie dir, die dem Bösen zugetan sind.«
»Willst du noch mehr von diesem Unsinn von dir geben?«, kreischte sie Shao an.
»Nein.«
»Dann waren das deine letzten Worte.«
Shao hatte es gehört. Sie lag da, und sie wusste, dass sie hilflos war. Trotzdem wollte sie nicht glauben, am Ende ihres Lebens zu stehen.
Der Mordfächer senkte sich ihrem Hals entgegen. Dahinter sah sie das bleiche Gesicht der Killerin, und Shao wusste nicht, wie sie dieser Lage entkommen konnte.
Was konnte sie noch retten?
In diesem Augenblick sah sie die rote Sonne!
***
Zunächst glaubte sie an eine Täuschung, dass ihr die Fantasie etwas vorspielte, aber das traf nicht zu, denn nicht nur Shao war überrascht, auch Marcia Gay hatte es bemerkt. Sie starrte ihren Fächer an, sie sah die rote Sonne, die sich auf der Fläche ausgebreitet hatte, und fand die richtigen Worte.
»Das Zeichen«, flüsterte sie, »es ist das Zeichen der Sonnengöttin. Die rote Sonne. Sie – sie – will Kontakt mit mir aufnehmen. Ich bin auf dem richtigen Weg.«
Plötzlich war Shao vergessen. Marcia starrte nur auf ihren Fächer, und auch Shao konnte den Blick nicht davon lösen. Auch sie sah die Sonne, da sie sich auf beiden Seiten abzeichnete.
Und von ihr strömte etwas aus, das sie einfach nur als wunderbar empfand. Ihre Augen glänzten plötzlich. Sie fühlte sich gut, und sie glaubte, in ihrem Kopf ein Brausen zu hören und darin eine neutral klingende Stimme.
»Wir lassen dich nicht im Stich …«
Shao konnte es nicht fassen. Das war tatsächlich eine Stimme gewesen. Sie sah den Sprecher oder die Sprecherin nicht. Sie würde sie auch nicht zu Gesicht bekommen, denn sie hatte sich aus einer anderen Dimension gemeldet.
Darauf wollte sie Marcia ansprechen, die aber war völlig in sich selbst versunken. Sie hielt den Fächer vor ihr Gesicht, sie starrte auf die rote Sonne, aber sie war nicht in der Lage, etwas zu sagen. Was sie da sah, hatte sie sich vielleicht gewünscht, überstieg aber ihr Fassungsvermögen.
Dann flüsterte sie einen Namen. »Amaterasu …?«
Ob sie eine Antwort erhielt, war für Shao nicht zu hören. Dafür geschah etwas mit der roten Sonne. Sie nahm eine noch intensivere Farbe an, und Shao sah, dass aus dieser Farbe hervor ein Licht entstand, das auch sie erreichte und besonders in ihrem Gesicht für eine wahre Wohltat sorgte.
Sie fühlte sich plötzlich wunderbar. Ein warmer Strom durchdrang ihren Körper und Shao hätte nicht sagen können, wann sie sich zum letzten Mal so wohl gefühlt hatte.
War das die Rettung?
Sie ging jetzt davon aus, aber sie dachte auch an ihre Feindin Marcia und was mit ihr geschah.
Die rote Sonne hatte auch sie erwischt, aber sie hörte keinen Laut, der auf ein Wohlbefinden hingedeutet hätte. Ruhig blieb Marcia auch nicht. Was sie von sich gab, konnte man jedoch nicht als eine Reaktion auf ein Wohlfühlen bezeichnen.
Marcia keuchte.
Dann stöhnte sie.
Den Fächer hielt sie noch immer fest, auch wenn er jetzt in
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