1692 - Das Denkmal
Schmerz, den sie trotzdem als schlimm ansah.
Sie war nur für einen kurzen Moment angefasst worden, dann zog der Eindringling seine Hand wieder zurück, starrte sie noch mal an, drehte sich um und ging.
Ada schaute auf seinen Rücken. Er hinterließ noch eine letzte Duftnote, dann war er weg. Obwohl sie es nicht genau gesehen hatte, wusste Ada, dass er sich nicht mehr in der Wohnung aufhielt. Aber sie hatte auch nicht gehört, dass der Besucher die Haustür geöffnet hätte. Er war nicht mehr da, und nur das zählte.
Zum ersten Mal seit Langem – so kam es ihr vor – konnte sie sich wieder bewegen. Dabei schaute sie auf ihren rechten Arm, von dem nur die Hand zu sehen war.
Ada schrie auf.
Die Hand war bläulich angelaufen. Und als sie versuchte, die Finger zu bewegen, war das nicht mehr möglich. Sie waren steif, und sie blieben es auch nach weiteren Versuchen.
Ada wollte schreien, konnte es aber nicht. Aber ihre Steifheit war nicht auf den gesamten Körper übergegangen. Ada konnte sich bewegen, und sie ging rückwärts, bis ihr die Beine nachgaben und sie nach hinten kippte.
Ada Wells hatte Glück, dass sie auf einer Sessellehne landete und von ihr aus auf die Sitzfläche rutschte, auf der sie sitzen blieb und schockstarr nach vorn schaute …
***
Es war ein Morgen wie immer, und es gab für Shao keinen Grund, an etwas Böses zu denken. Das hielt auch eine Weile an, bis sie mehr aus Zufall auf die Uhr schaute und leicht zusammenzuckte.
Sie hatte nicht damit gerechnet, dass schon so viel Zeit vergangen war.
Eigentlich hätte Ada schon bei ihr sein müssen, um den Tee zu trinken.
Sie war bisher noch nicht gekommen. Shao hatte auch noch kein Teewasser aufgesetzt. Das alles war jetzt nicht mehr wichtig. Ihre Sorge drehte sich darum, dass Ada noch nicht gekommen war, und das war schon bedenklich.
Sie überlegte, ob sie den zweiten Schlüssel nehmen und nach nebenan gehen sollte. Es passte ihr nicht, denn sie wollte kein Kontrolleur sein. Das tat sie nie.
Heute war alles anders. Eine innere Unruhe hatte sie erfasst. Eigentlich konnte in der Wohnung nichts passieren, aber es gab nicht nur die Regel, sondern auch die Ausnahme, und ein Mann wie John Sinclair konnte nicht zu den normalen Menschen gezählt werden. Auf ihn lauerten die Feinde und sie nahmen keine Rücksicht darauf, wo er sich gerade aufhielt.
In der Wohnung war er nicht. Da arbeitete nur Ada, die mit ihrer Arbeit längst hätte fertig sein müssen. Shao kam in den Sinn, dass viele Unfälle bei der Hausarbeit passierten, und davor war auch eine Ada Wells nicht gefeit.
Es gab nichts mehr zu überlegen. Sie holte einen weiteren Schlüssel aus dem Versteck, nahm auch den für ihre Wohnung mit, und öffnete die Tür, um in den Flur zu treten.
John Sinclair wohnte rechts von ihnen.
Dorthin wollte sie sich wenden, aber sie schaute in die entgegengesetzte Richtung, denn dort war ihr aus dem Augenwinkel eine Bewegung aufgefallen.
Shao schaute hin.
Sie sah einen Mann. Er drehte ihr den Rücken zu, und er ging nach links der Wand entgegen.
Shao blieb nur wenig Zeit, sich mit dieser Gestalt vertraut zu machen, und doch nährte sich in ihr der Verdacht, dass sie es nicht mit einem normalen Menschen zu tun hatte. Etwas störte sie an ihm. Zudem schien er keine Kleidung zu tragen.
Und dann passierte etwas, das ihr den Atem raubte. Sie sah den Mann noch kurz vor der Wand, und plötzlich erkannte sie, dass an seinem Rücken Flügel wuchsen.
»Nein«, flüsterte sie.
Dann ging der Besucher einen Schritt vor. Direkt auf die Wand zu – und verschwand!
Shao stand im Flur und kam sich irgendwie überflüssig vor. Was sie da gesehen hatte, war ungeheuerlich. Das konnte sie nicht fassen, aber sie wusste auch, dass sie keinem Irrtum erlegen war.
Er war weg!
Er kehrte auch nicht zurück!
Shao hörte sich selbst lachen. Es kam ihr vor, als hätte eine Fremde gelacht. Das war nicht zu fassen, und dass sie sich nicht bewegte und schockstarr auf der Stelle stand, war ganz natürlich. Aber sie dachte auch einen Schritt weiter.
Shao wusste nicht, wer dieser unheimliche Besucher war, aber es stand für sie fest, dass er nicht grundlos in dieses Haus eingedrungen war. Er musste ein Ziel gehabt haben, und dieses Ziel hieß …
Mein Gott, Ada!
Ada musste ihre Gründe gehabt haben, dass sie nicht pünktlich zum Teetrinken gekommen war. So war für Shao leicht vorstellbar, dass dieser Besucher mit den Flügeln auf dem Rücken in John Sinclairs Wohnung gewesen
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