1692 - Das Denkmal
zeigt, was ihr könnt«, sagte er, betrat den Flur, und als wir ihm Sekunden später nachschauten, war er nicht mehr zu sehen.
Ich schlug Suko auf die Schulter. »Dann mal los, mein Lieber …«
***
Der Friedhof lag in einem Wohngebiet, war aber trotzdem von dieser urbanen Welt getrennt und bildete so etwas wie eine Oase der Ruhe. Sicherlich wurde er bei entsprechendem Wetter von Spaziergängern benutzt, doch das war an diesem Tag nicht der Fall. Es schien keine Sonne, es war nicht unbedingt warm. Ein kalter Wind wehte gegen unsere Gesichter und brachte einen erdigen Geruch mit, als wir den Friedhof betraten. Wir zogen die eine Hälfte des Doppeltors wieder hinter uns zu und schauten auf den breiten Hauptweg, der das Gelände wie ein Lineal durchschnitt.
Den Friedhof kannten wir nicht. Wir mussten uns erst umschauen, doch schon beim ersten Blick war zu erkennen, dass diese Umgebung zahlreiche Verstecke bot, weil der Bewuchs im Laufe der Jahre sehr dicht geworden war und sich wohl niemand mehr um den Beschnitt der Pflanzen kümmerte.
Wir gingen einige Meter ins Gelände hinein und hatten sofort das übliche Friedhofsgefühl. Obwohl die Wohnhäuser nicht weit entfernt lagen, überkam uns der Eindruck, vom Rest der Welt abgeschnitten zu sein. Bei einem Rundblick stellten wir fest, dass sich außer uns keine weiteren Besucher auf dem Areal aufhielten. Darauf schwören wollte ich nicht, aber im Moment war niemand zu sehen.
Nach einigen Metern hielten wir an, denn als wir nach rechts schauten, da sahen wir das Dach eines Hauses. Es war nicht ganz flach, sondern leicht angewinkelt, und die grauen Schindeln glichen sich den Farben der allmählich einsetzenden Dämmerung an.
Suko drehte sich um und sah mir ins Gesicht. Wir hatten beide angehalten, ich stand etwas hinter meinem Freund.
»Hast du eine Idee, wo wir mit der Suche anfangen sollen, John?«
»Nein.« Ich hob die Schultern. »Wahrscheinlich müssen wir warten, bis sich die andere Seite meldet.«
»Das befürchte ich auch. Ich frage mich nur, ob man uns bereits entdeckt hat.«
»Kann sein, aber …« Ich sprach nicht weiter. Ich hatte mich umgedreht und zufällig auch zum Dach der Leichenhalle hinauf geschaut.
Dort bewegte sich etwas!
Ich gab Suko durch mein Zischen ein Zeichen, deutete zum Dach hoch, und so sahen wir beide, was dort geschah.
Jemand bewegte sich über das Dach hinweg. Er ging geduckt und hatte sich klein gemacht. Nur nicht so klein, dass wir den Buckel auf seinem Rücken nicht gesehen hätten.
Ein direkter Buckel war es nicht. Was sich da ausbeulte, war ein Teil der Flügel, und das wiederum machte uns klar, dass wir Malloch gefunden hatten.
Suko stieß zischend den Atem aus. »Er ist es!«, flüsterte er.
Noch hatte uns der abtrünnige Engel wohl nicht entdeckt, und das sollte zunächst auch so bleiben. Wir brauchten uns nicht weiter abzusprechen. Jeder wusste genau, was er zu tun hatte.
Wir setzten uns mit schnellen Schritten in Bewegung, um Deckung zu finden. Das war kein Problem, denn es gab genügend Bäume in der Nähe, hinter denen wir uns verbergen konnten. Wir brauchten nur zwei, drei Schritte über den weichen Boden zu laufen, dann schabten wir mit den Schultern an der Rinde entlang.
Der Platz war gut gewählt. Wenn wir nach links schauten, geriet das Dach der Leichenhalle in unser Blickfeld. Jetzt sahen wir, dass sich Malloch aufgerichtet hatte. Er stand dort wie ein Wächter, der seine Umgebung beobachtet.
Er tat noch nichts, hielt Ausschau und breitete wenige Augenblicke später seine Schwingen aus, wobei er sich vom Dach entfernte, aber nicht auf den Friedhof zuflog, sondern nur in die Höhe stieg, weil er von dort oben einen besseren Überblick hatte.
Uns konnte er nicht sehen.
Es vergingen gut fünfzehn Sekunden, bevor Malloch sein Verhalten änderte. Er sank wieder dem Dach entgegen, aber diesmal berührte er es nicht. Etwa eine Fußlänge schwebte er darüber hinweg und auf den Rand zu.
Von uns brauchte keiner zu raten, was er vorhatte. Er glitt in die Tiefe und berührte wenig später mit beiden Füßen den Boden, wo sich auch die Flügel zusammenfalteten.
»Jetzt bin ich mal gespannt«, flüsterte Suko.
»Ja, und ich habe das Gefühl, dass Malloch dort etwas suchen will.«
»Aber nicht uns.«
»Das denke ich auch.«
Obwohl nichts weiter geschah, war es für uns doch interessant, zuzusehen, was sich dort tat. Noch immer blickte sich Malloch um. Er drehte sich auch ein paar Mal auf der Stelle, und dann
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