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170 - Die Scharen der Nacht

170 - Die Scharen der Nacht

Titel: 170 - Die Scharen der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ronald M. Hahn
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Dinguh-Meute zum Opfer gefallen war, hatte die Ehrwürdige sich meiner angenommen.
    Die Prüfung war etwas, worüber wir nur tuschelten. Wir alle wussten, dass sie uns eines Tages bevorstand. Wir ahnten jedoch nicht, welchem Zweck sie diente. Wir vermuteten, dass man unseren Glauben prüfte. Doch welche Auswirkungen eine nicht bestandene Prüfung hatte, wusste niemand. Jene, die sie abgelegt hatten, sprachen nicht darüber.
    »Wann, Ehrwürdige Mutter?«
    »Heute. Jetzt. Sofort.«
    Ich war wie von Sinnen. Heißes Fieber befiel mich. Und schon packte die Tapfere Schwester Ronee meine Schulter und drehte mich zur Tür hin.
    Wir verließen das Büro der Ehrwürdigen und schritten durch viele Gänge, die nicht alle von Fackeln beleuchtet wurden. Die Ehrwürdige ging voraus. Irgendwann erkannte ich, dass wir zu einem der Türme der Ordensburg unterwegs waren. Als wir ihn erreichten, standen wir vor einer stählernen Tür, die von zwei Tapferen Schwestern bewacht wurde.
    Sie grüßten uns, indem sie bei unserem Anblick die rechte Hand auf ihr Herz legten. Vor mir gingen sie in die Knie und sagten: »Möge die Kristallene Göttin dir gewogen sein, lieber Prüfling.«
    Ich zitterte am ganzen Körper, als die Ehrwürdige die Stahltür mit einem großen Schlüssel öffnete.
    Die Wächterinnen standen wieder auf, salutierten und bedeckten ihr Gesicht mit den Händen.
    Mir gingen viele Gedanken durch den Kopf. Was passierte, wenn die Kristallene Göttin mir nicht gewogen war? Was, wenn zwischen mir und den anderen Novizinnen ein Unterschied bestand?
    Die Ehrwürdige Mutter trat beiseite und nickte mir zu. Ihre blauen Augen sagten: Geh hinein, Kind. Enttäusche uns nicht.
    Ich trat ein. Ich sah einen dunklen Raum. Hinter mir wurde die Tür geschlossen. Die Turmkammer wurde stockdunkel. Ich sah absolut nichts mehr.
    Es dauerte eine ziemliche Weile, dann hörte ich etwas rascheln, wie Papier. Dann betastete etwas meine Stirn. Meine Hand zuckte automatisch hoch, doch da war nichts.
    Trotzdem ging das Tasten weiter. Es lief mir kalt über den Rücken. Dann wusste ich, dass das Tasten in meinem Kopf war
    … und dass das Rascheln ebenfalls von dort kam …
    ***
    Das Dorf bestand aus vierzig oder fünfzig Pfahlbauten. Sie standen vor bewaldeten Hängen am Ufer eines schnell dahinströmenden Flusses.
    An einem schmalen hölzernen Landesteg dümpelten Kanus und Boote. Hier und da standen halbnackte bronzehäutige Männer im Wasser und spießten dicke Fische auf. Sie waren sehr geschickt: Immer wenn sie ihre Spieße aus dem glasklaren Wasser zogen, zappelten silberne Fischleiber auf ihnen.
    Die Anordnung der Pfahlbauten erinnerte an eine Wagenburg. In der Mitte war ein Platz, auf dem sich das öffentliche Leben abspielte: Kinder tollten herum, Frauen kochten Essen auf offenem Feuer, Greise saßen unter Vordächern, ließen die Beine baumeln, rauchten und ärgerten das Geflügel, das zwischen den Häusern im Boden scharrte und hysterisch gackerte, wenn ein frei herumlaufendes Dörfler-Moolee ihm in die Quere kam.
    Eine Idylle. Aruula bemerkte, dass die Menschen auch hier ausnahmslos schwarzhaarig waren und mandelförmige Augen hatten. Die meisten waren klein und schlank, oft auch mager.
    Viele rauchten ohne Unterlass und stellten eine Gelassenheit zur Schau, an die sie sich noch immer nicht gewöhnt hatte.
    Seltsam – mandeläugige Menschen wirkten nur in den seltensten Fällen nervös. Sie kannten keine Ungeduld und schrien sich auch fast nie an. Selbst der Räuber mit dem roten Turban hatte seine Engstirnigkeit mehr oder weniger gelassen vorgetragen.
    »Wo sind wir?« Aruula reckte auf ihrem Moolee den Hals.
    Es war schön hier, grün und schattig, und die Menschen machten einen freundlichen Eindruck.
    »Ein Flussfischerdorf wie tausend andere. Ich weiß nicht mal, ob es einen Namen hat.« Suúna zügelte ihr Reittier am Rande des Dorfplatzes und schaute sich um.
    Den Frauen gegenüber stand ein mit Palmenblättern bedecktes Pfahlhaus, das länger war als die anderen. In der offenen Tür stand eine dralle Frau, die Suúnas Mutter hätte sein können. Sie winkte freundlich.
    »Osura!« Suúna trat ihrem Moolee sanft in die Rippen. Der Vierbeiner sprengte wie der Blitz zur Veranda des Hauses hin.
    Suúna sprang ab, lief die hölzerne Treppe hinauf und schloss Osura in die Arme. Sie küssten sich und tauschten einen Wortschwall aus.
    Ein Mann mit zerzaustem Haar kam aus dem Haus. Er trug einen Lendenschurz und ein weißes Stirnband und

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