170 - Die Scharen der Nacht
durchschlagenden Bleikugeln erfüllten die Luft.
Sie hörte Menschen röcheln und stöhnen.
Als sie hoch blickte, lagen die sechs Männer, die sie auf dieser Seite des Abgrundes erwartet hatten, in verkrümmter Haltung am Boden. Die Fremde winkte Aruula mit einer der Waffen zu und schrie: »Los, komm her! Hopp! Hopp!«
Da Aruula unverletzt war, nahm sie an, dass die Frau nicht darauf aus war, auch sie ins Jenseits zu befördern. Bevor sie jedoch aufstehen konnte, ließ das wütende Johlen, das nun am anderen Ende der Brücke ertönte, sie zurückschauen.
Die vier dort verbliebenen Banditen schlugen mit ihren Krummsäbeln auf die Taue ein, die die Brücke an dicken Pfosten festhielten.
»Los, komm endlich!«, schrie die Frau wieder.
Aruula sprang auf wie der Blitz. Sie schob ihr Schwert in die Rückenkralle und lief los.
Das Johlen erstarb nicht. Als ihre Retterin an den Rand des Abgrundes trat und Aruula mit aufgeregten Gesten zu verstehen gab, sie solle sich ducken, machte irgendetwas Twängggg. Die rechte Seite der Hängebrücke sackte plötzlich ab. Aruulas Herz tat einen gewaltigen Sprung.
Sie duckte sich. Die Fremde riss ihre Yutzis hoch und schickte zwei Feuerstöße in Richtung der Männer mit den Säbeln.
Erneutes Geschrei. Hinter Aruula löste sich etwas. Sie spürte, dass die Bohlen unter ihren Füßen nachgaben.
Einen halben Schritt vor der rettenden anderen Seite war der Boden unter ihr nicht mehr da. Wudan, nein…! Aruula warf sich nach vorn und streckte die Arme aus, um sich in den Rand des jenseitigen Abgrundes zu krallen.
Sie fiel. Ihre Unterarme knallten auf den Boden der anderen Seite.
Die Fremde ließ ihre Waffen fallen. Ihre Hände zuckten vor.
Aruulas Kopf schlug gegen etwas Hartes.
Dann war sie weit, weit fort.
***
Ein unergründliches Pulsieren holte Aruula wieder aus dem endlosen schwarzen Meer zurück.
Die fernen Lichter, von denen sie längst wusste, dass es Sonnen waren, flackerten verschwommen, als wolle das Auf-und Abschwellen ihr etwas signalisieren: Es ist alles gut. Du lebst. Du kannst nun erwachen…
Die endlosen Weiten, die Aruula einst an Maddrax' Seite durchflogen hatte, machten ihr Angst. Damals hatte ein Gefährt aus Stahl und Tekknik sie vor dem Nichts geschützt. Nun aber fiel sie ohne Schutz durch den Raum, in dem es Maddrax zufolge nicht einmal Atemluft gab.
Aber das war falsch, denn hier gab es Luft, und zwar jede Menge. Aruula spürte sie deutlich; sie rauschte und klatschte in ihr Gesicht wie eine Brandung. Klatsch! Klatsch! Klatsch!
»Wirst du endlich aufwachen, verflucht noch mal?«
Das Rauschen ließ nach. Die Schwärze wich. Die Sonnen verblassten. Was blieb, war die Pein in ihrem Kopf.
Aruula schlug die Augen auf. Das grelle Licht der Sonne tat ihr weh. Sie hörte sich stöhnen.
Ein Schatten fiel über ihr Gesicht. Sie sah die braunen Augen und das dunkle Haar der Frau, die aus dem Busch gekommen war, um sie mit ihren Yutzis vor dem Totenvogel Krahac zu retten. Das heißt, eine Frau war sie eigentlich nicht.
Aruula schätzte, dass sie nicht mehr als zwanzig Winter gesehen hatte. Sie konnte also kaum mehr sein als ein großes Kind.
»He, du lebst! Toll!«
Die Dunkelhaarige sprach wie die Menschen in Landán, aber viel deutlicher als Roter Turban. Bedeutete dies, dass sie aus besseren Kreisen stammte?
Aruula ächzte. Hinter ihrer Stirn tobte ein stechender Schmerz. Ihre Nase fühlte sich an, als sei sie gegen eine Wand gelaufen.
»Wie geht es dir?« Die Dunkelhaarige hielt eine Feldflasche an Aruulas Lippen. Relativ kühles Wasser rann durch ihre Kehle. Es war so viel, dass Aruula sich verschluckte und husten musste.
»Oh, entschuldige…« Der Schatten wich. Die Dunkelhaarige kniete zwischen Aruulas gespreizten Beinen und verschloss den Wasserbehälter mit einem Schraubverschluss.
Ihre Tekknik erinnerte an die der westlichen Länder. Auch die Bewaffnung ihrer Retterin deutete an, dass sie kein Höhlenmensch war. Auch wenn die vielen Schmuckstücke, die sie sich durch ihre Haut gestochen hatte, eher rituellen Ursprungs sein mussten.
Nein. Sie entstammte einer Zivilisation, die mindestens so entwickelt war wie die der Technos. Warum auch nicht? Wie Aruula von Maddrax wusste, war die Welt vor Kristofluu so weit meerakanisiert gewesen, dass ihre eigenen Kulturen nur noch ein Schattendasein gefristet hatten.
Doch woher wusste diese Frau, welche Sprachen Aruula verstand?
»Ich heiße Suúna.« Die Fremde beugte sich erneut über sie.
Ihr
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