170 - Die Scharen der Nacht
zuckende Gestalt auf dem Pflaster. Ihre rechte Hand schwang ein Messer. Aus ihrem Hals spritzte eine Fontäne. Der Anblick war schrecklich.
Das Mondlicht zeigte ihm ein Gesicht: Tsani.
Der Freund stieß ein gespenstisches Röcheln aus, zuckte noch einmal und erschlaffte.
Shaggai wich zurück. Sein Magen revoltierte. Er würgte, dann spuckte er sein Abendessen im hohen Bogen aus. Das sich an seine Magennerven krallende Entsetzen war so schlimm, dass er eine Weile brauchte, bis ihm einfiel, dass sie zu dritt hierher gekommen waren.
Wo war Ofrem? Wo steckte er? Shaggai wankte tränenblind umher und krächzte Ofrems Namen. Über sich, dort, wo die Säulengänge waren, glaubte er vermummte Gestalten zu sehen, die stumm zu ihm hinab schauten.
Eine neue Wolke verhüllte den Mond und tauchte den Hof in tiefe Finsternis. Shaggai empfand ein solches Grausen, dass er nur noch an Flucht dachte. Er lief zu der Tür zurück, die zum Loch führte… Da war eine Gestalt, die sich vor ihm an die Gebäudewand drückte!
Ofrem? Shaggai öffnete den Mund, als ihn die Gestalt wie eine Katze anfauchte. Dann blitzte in ihrer Hand ein Dolch auf.
Shaggai sah, dass davon Blut auf den Boden tropfte. Und dann erst erkannte er in der verzerrten Fratze Ofrems Gesicht.
»Ofrem«, hauchte Shaggai erschreckt. »Was, bei den pferdefüßigen Luziferen, ist in dich gefahren?«
»N'gah-kthun«, würgte Ofrem hervor.
Er verdrehte die Augen wie ein Irrsinniger, spuckte Schaum und Blut aus und warf sich Shaggai entgegen.
Shaggai, dessen Nerven vor Furcht zum Zerreißen gespannt waren, wich zur Seite aus. Ofrems blutige Klinge zerfetzte sein weites Hemd, dann ließ ihn der Schwung des Sprunges mit ausgestreckten Armen nach vorn aufs Pflaster fliegen.
Shaggai hörte ein Klatschen. Viele Gedanken huschten gleichzeitig durch sein Hirn: Ofrem war wahnsinnig geworden.
Ofrem hatte Tsani getötet. Und nun wollte er seinen zweiten Freund umbringen. Dass er nicht bei Sinnen war, bewiesen seine Fratze und die schrecklichen Laute, die er ausstieß.
Ofrem richtete sich wieder auf.
Shaggai holte mit dem rechten Bein aus und trat seinem Freund unters Kinn. Shaggai vernahm ein lautes Knacken, als Ofrems Kopf nach hinten flog. Ein dumpfer Seufzer kam über seine Lippen, dann fiel er nach hinten aufs Pflaster. Sein Hinterkopf schlug auf das Gestein. Die Augen brachen. Seine Hand ließ das Messer fallen. Seine Beine zuckten wie die Schwingen eines enthaupteten Vogels.
Shaggai stand da und schaute dem fürchterlichen Schauspiel zu. Er zitterte wie Espenlaub, und wenn sein Magen nicht schon leer gewesen wäre, hätte er sich noch einmal übergeben.
Die Hand, die sein Messer hielt, war so taub, dass ihm erst ein Klirren sagte, dass es ihm entglitten und zu Boden gefallen war.
»Ofrem… Ofrem …« Tränen strömten über Shaggais Gesicht.
Was sollte er nur den Eltern seiner Freunde erzählen? Was würde sein Vater tun, wenn er erfuhr, dass er und die anderen die Regeln der Gastfreundschaft verletzt hatten? Welchen Fluch hatten sie mit ihrer Tat auf sich geladen?
»Ofrem…« Shaggai kniete sich neben seinen Freund und beugte sich über ihn. Ofrems Gesicht sah so anders aus …
Shaggais Zähne klapperten derart laut, dass er sich fragte, wieso die schwarzen Gestalten das Geräusch nicht hörten.
Dann öffnete Ofrem die Augen. Und den Mund.
Er grinste Shaggai an.
Shaggai atmete auf.
Ofrems rechte Hand fuhr hoch und legte sich auf die Stirn seines Freundes. »No-phru-ka…«, röchelte er.
Dann war plötzlich etwas in Shaggais Kopf, das nicht wieder gehen wollte.
Und Shaggai begab sich auf eine lange Reise in die absolute Finsternis…
***
Die nächste Hafenstadt, so hatte Aruula von den Landvermessern erfahren, an deren Lagerfeuer sie in einer kühlen Nacht gesessen hatte, hieß Yangonn und war Jahrtausende alt: Schon in der Zeit der Könige hatte man von dort aus alle Häfen der bekannten Welt angelaufen.
Doch vermutlich war der Ort – wie fast alle Städte, die sie gemeinsam mit Maddrax bereist hatte – heute nur noch ein blasser Abklatsch der einstigen Pracht.
Naja, dachte Aruula, Hauptsache, der Hafen ist noch in Betrieb. Nur dies war ihr wichtig: Ihrem Instinkt zufolge war der lange Marsch übers Festland bald zu Ende. Irgendwie sehnte sie sich danach, sich an Bord eines Seglers zu begeben, die Stiefel auszuziehen und die Beine hochzulegen.
Sie war viele Monate mit unterschiedlichen und manchmal auch unvorstellbaren Transportmitteln
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