1702 - Rückkehr der Verdammten
Ich dachte sofort daran, dass es auch unter den Engeln große Unterschiede gab. Sie waren nie gleich. Es gab die guten und es gab die bösen Engel, und ich war mir hier noch nicht sicher, zu welcher Kategorie sie zählten.
»Du wunderst dich?«
»In der Tat.«
»Da kenne ich viele, die sich gewundert haben, wenn wir uns mal zeigten. Es geschieht nicht oft, aber damals haben wir es getan. Wir wollten nicht, dass die beiden so wertvollen Menschen starben. Wir wollten, dass sie lebten.«
»Aber man hat sie getötet«, hielt ich entgegen. »Man hat sie sogar hier begraben.«
Ich hörte ein kicherndes Lachen und dann die Frage: »Hat man das wirklich?«
»So ist es überliefert.«
»Es stimmt nicht alles. Man hat sie zwar erschlagen, aber man hat sie nicht hier verscharrt. Man wollte es an einem anderen Tag tun. Es war ihnen nur wichtig, dass sie nicht mehr lebten, und das hat auch dieser Mann mit dem Kreuz gesagt, der dann gegangen ist. Als die Menschen am folgenden Tag auf dieses Gelände kamen, um die beiden Toten zu verscharren, waren sie nicht mehr da.«
»Aha. Und daran seid ihr schuld gewesen – oder?«
»So ist es gewesen. Wir hatten ihnen schon vorher die Entscheidung überlassen. Sie konnten sich für den Himmel entscheiden, dann wären sie möglicherweise zu Engeln geworden, aber auch für die Hölle, dann wären sie Menschen geblieben und irgendwann wieder auf diese Erde zurückgeschickt worden.«
Ich wusste Bescheid. Es war völlig anders, als ich es angenommen hatte. Darauf wäre ich nie gekommen, und in meiner Stimme schwang noch das Staunen mit, als ich fragte: »Dann habt ihr euch um sie gekümmert?«
»Nachdem sie sich für uns entschieden hatten.«
»Also für die Hölle!«
»So sagt ihr Menschen. Wir haben sie übernommen. Die Verdammten waren in unserem Schoß sicher.«
Ich hatte es geahnt, und meine Ahnung hatte mich nicht getrogen. Obwohl ich viel mit den Engeln zu tun hatte, gab es doch immer wieder große Überraschungen. Ihre Welt war so vielfältig, so unterschiedlich, und es gab auch in ihr die beiden großen Gegensätze.
Das Gute auf der einen, das Böse auf der anderen Seite, das von der Hölle und deren Herrscher aufgebaut worden war. Diese Gruppe von Engeln stammte aus dem Dunstkreis der Hölle und aus einem Reich, zu dem ich keinen Zutritt hatte.
Sie hatten sich die Toten geholt und waren über lange Zeit hinweg ihre Wächter gewesen. Nun war die Zeit reif für eine Rückkehr der Verdammten.
Und beide hatten genug gewusst, wem sie im Prinzip ihren Tod zu verdanken hatten. Hector de Valois. Der aber lebte nicht mehr, doch sie wussten genau, dass sich das Kreuz in seinem Besitz befunden hatte. Nun besaß es ein anderer Mensch, nämlich ich, und diesen Menschen setzten sie mit de Valois gleich. Deshalb hatten sie mir auch ihren Pestkiller geschickt.
Raffinierter konnte man einen Plan nicht einfädeln. Aber ich war jetzt gewarnt und würde mich anders verhalten als mein Vorgänger.
Die graue Geistermasse, die sich als Engel ansah, war noch immer vorhanden. Man konnte sie nur als Masse bezeichnen, denn sie standen so dicht beisammen, dass es keine Zwischenräume gab. Zudem waren sie gesichts- und beinahe auch gestaltlos, doch in ihnen steckte das Fluidum der Hölle.
»Und jetzt leben die beiden Pestbringer wieder!«, fasste ich in einem Satz zusammen.
»Ja, denn wir haben es ihnen ermöglicht. Und sie haben gespürt, dass es für sie etwas zu tun gibt. Ihr Mörder existiert nicht mehr, aber sein Nachfolger sehr wohl.«
»Ich weiß Bescheid. Sie sind gekommen, um sich zu rächen. Eine Rache der Verdammten. Nur wird sie nicht klappen, denn …«
»Sie wollen dich nicht töten. Sie wollen etwas mit dir anstellen. Sie werden dich auf ihre Seite ziehen.«
Ich blieb gelassen und sagte: »Das ist mir neu. Wie soll das geschehen?«
»Sie sind bereit, dir den Pestkuss zu geben. Du wirst infiziert, und du wirst zwangsläufig andere Menschen anstecken. So sieht der Plan aus, den sie heute noch ausführen werden …«
Bereits die letzten Worte waren leiser gesprochen worden. Es war für mich der Beweis, dass die Masse der Engel ihren Besuch beenden würde, und das trat auch ein.
Die grauweiße und fast gestaltlose Masse löste sich vor meinen Augen auf. Als wäre sie eine Nebelbank, die von einer heftigen Windbö erfasst worden war.
Für mich war der Blick auf den Waldrand wieder frei. Allmählich kehrte ich auch in die Realität zurück. Ich spürte den Wind, die Kühle und
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