1706 - Kibb
Lektion tat sich den Novizinnen plötzlich eine gänzlich neue, wahrlich unendliche Welt auf. Sie erfuhren, daß ihr Arresum nur eine Seite des Universums darstellte. Denn es gab auch noch eine andere Seite, das Parresum. Beide bildeten zusammen ein Ganzes, waren jedoch durch eine nicht klar definierte Grenze voneinander getrennt.
Und auf dieser anderen Seite existierte vielfältiges Leben in unzähligen Erscheinungsformen. Man begegnete ihm auf Schritt und Tritt, atmete es ein, sah sich daran schwindelig.
Aber nicht nur das. Es gab im Parresum nichts, was mit der Abruse vergleichbar war. Das Parresum hatte keinen solchen Lebensfresser aufzuweisen, der von diesem Lebensquell hätte trinken und ihn hätte zum Versiegen bringen wollen. Im Parresum konnte sich Leben nahezu ungehindert ausbreiten.
Diliba sagte zwar mahnend: „Seht das Parresum nur nicht zu verklärt. Es gibt Anzeichen dafür, daß dort jede Lebensform so etwas wie eine eigene Abruse in sich trägt."
Doch zu diesem Zeitpunkt wußten die Novizinnen mit einer solchen Warnung überhaupt nichts anzufangen. Sie berauschten sich förmlich an den gezeigten Bildern. Und es war für sie das bisher schönste Erlebnis ihres noch kurzen Lebens, als ihnen Diliba ein in einem Energiekäfig gehaltenes Wesen von drüben zeigte. So etwas Exotisches hatten sie nie zuvor gesehen.
Das Wesen war unterarmlang und schenkeldick, hatte ein graues Fell und bewegte sich auf sechs kurzen Beinen fort. Es konnte sich aber auch aufrichten, mit den oberen beiden Extremitätenpaaren gestikulieren und mit seinem winzigen klugen Gesichtchen Grimassen schneiden. Dabei gab es piepsende Laute von sich. Die Mehrheit der Novizinnen war über zeugt, daß das Wesen eine beachtliche Intelligenz besaß, und sie tauften es auf den Namen Parrie.
Diliba gab keinen Kommentar dazu ab, behauptete jedoch, daß das Parresum mit Milliarden von verschiedenen Intelligenzvölkern förmlich überquoll und es Sternenreiche wie jenes der Ayindi ohne Zahl gab. Im Arresum dagegen gab es neben ihnen nur noch die Barayen als zweites Intelligenzvolk. Noch, mußte man sagen, denn die Abruse hatte das Ende der Barayen bereits eingeläutet.
Moiras erste Empfindung war Verbitterung über diese ungerechte Verteilung der Lebenssaat und die Tatsache, daß das karge Leben im Arresum zudem noch von einer Macht wie der Abruse bedroht wurde und so zum Aussterben verurteilt war.
Im Parresum hätte sich die Abruse sättigen können, ohne den Bestand des Lebens wirklich zu bedrohen. Ja, vielleicht hätte sich das Problem sogar auf natürliche Weise erledigt, und die Abruse wäre im Übermaß erstickt.
Zu diesem Zeitpunkt mochte Moira etwa zwanzig Standardjahre alt gewesen sein - nach ayindischen Maßstäben ein Kind. Allmählich reifte sie zusammen mit den anderen Novizinnen ihres Jahrganges jedoch heran. Die zusätzliche Lehrstunde Parr trug viel dazu bei.
Und die anfängliche Verbitterung über die ungerechte Verteilung der Lebenssaat zwischen hüben und drüben wich einer berechtigt scheinenden Hoffnung, daß diesbezüglich ein Gleichgewicht hergestellt werden könnte oder zumindest ein Ausgleich.
Diese Hoffnung begann in Moira zu keimen, als sie unter Dilibas Führung das Aariam-System und seine einundzwanzig Passageplaneten kennenlernte. Sie erfuhr, daß jeder dieser Planeten eine Brücke zu einer Gegenwelt im Parresum bildete, über die man auf die andere Seite gelangen konnte.
Zwischen dem siebten und dem achten Planeten hatte einst ein weiterer Planet namens Oosinom existiert. Zu Moiras Zeit zeugte jedoch nur noch ein Asteroidengürtel von seiner einstigen Existenz.
„Wie wurde Oosinom zerstört?" wollte eine der Novizinnen wissen.
„Es war der erste Passageplanet. Allerdings lediglich als Testfall gedacht. Oosinom ging im Zuge der Experimente in die Brüche", erläuterte Diliba unwillig.
Sie wollte damit zu erkennen geben, daß sie durch diese Frage in ihrem Konzept gestört wurde.
In der Folge berichtete die Lehrerin, daß die Gegenstücke zu den 21 Planeten des Aariam-Systems im Parresum rings um ein Gebiet von unglaublichen 90 mal 160 Millionen Lichtjahren verteilt waren - und daß vermutlich nicht einmal die Abruse solche Di ensionen besaß.
m Es fiel Moira damals schwer, sich einen so gewaltigen Raumsektor bildlich vorzustellen. Noch schwerer war es für sie, Dilibas Aussage nachzuvollziehen, daß dieser gigantische Raumsektor praktisch leer war, ohne jegliche größere Sternenballung, von ganzen
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