1715 - Gewächs des Grauens
genau, wie er gestorben ist. Da existieren nur Überlieferungen. In denen heißt es, dass er wahnsinnig geschrien hat. Geschrien, gefleht, gezetert, und die Menschen an seinem Krankenbett glaubten, dass der Satan persönlich eingegriffen hat.«
»Isidor scheint wirklich eine besondere Gabe gehabt zu haben«, sagte ich. »Eben ein Mystiker.«
»Ja, er hat viel gewusst. Er konnte hinter die Dinge schauen und war von beiden Seiten fasziniert. Als er starb, muss seine Seele auf Wanderschaft gegangen sein. Sein böser Geist ist noch vorhanden, und das will die andere Seite für sich nutzen.«
»Gut«, sagte ich, »dann gehen Sie jetzt in die Kirche und bereiten alles vor.«
»Und was tun Sie?«
»Ich werde auf Jane Collins warten.«
»Tun Sie das, Mister Sinclair.« Er winkte Tobias Sobic zu, der die ganze Zeit über im Hintergrund gewartet hatte. Beide bewegten sich nicht auf die Eingangstür zu, sondern in die entgegengesetzte Richtung. Mir fiel ein, dass dieses Haus an die Kirche angebaut war. Es musste also eine Verbindung geben, eine Tür, die ich nicht gesehen hatte.
Ich nahm den üblichen Weg und trat wieder ins Freie. Mit den Blicken suchte ich die Umgebung ab, doch Jane Collins sah ich nicht, ich konnte nur hoffen, dass sie bald eintraf …
***
Jane Collins hatte ein Taxi gefunden, dem Fahrer das Ziel genannt und saß auf dem Rücksitz. Die Augen hielt sie geschlossen. Auf ihren Knien lag das Bild. Sie hatte es nicht wieder eingepackt und warf hin und wieder einen Blick darauf. Schon einmal hatte sie die Veränderung erlebt, und jetzt rechnete sie damit, dass sich dies wiederholen würde.
Immer wieder stellte sie sich die Frage, was mit dem Bild geschehen war. Wer es gemalt hatte und wie man es hatte manipulieren können. Dieser Isidor musste ein mächtiger Mystiker gewesen sein, sonst wäre nicht das passiert, worunter sie immer noch litt.
Einige Male musste der Fahrer anhalten. Dann schaute er in den Spiegel, um nach seinem Fahrgast zu sehen. Jane Collins bemerkte es, sagte aber nichts.
Natürlich war sie nervös. Immer wieder schaute sie aus dem Fenster, weil sie nach irgendwelchen Verfolgern suchte. Jane sah nichts Auffälliges, doch davon ließ sie sich nicht täuschen. Sie wusste genau, wozu bestimmte Menschen fähig waren. Und dass sich die Ikone in den falschen Händen befand, stand für ihre Gegner fest.
Jane dachte immer wieder an den Bärtigen. Klar, sie hatte schon weitaus schlimmere Dinge erlebt, aber diese Gestalt wollte einfach nicht aus ihrer Erinnerung weichen. Sie hätte sich nicht gewundert, wenn er in einem anderen Wagen neben dem Taxi erschienen wäre.
Die Ikone hielt sie an den Seiten fest. Sie wollte nicht, dass sie von ihren Knien rutschte.
Sie spürte eine eigenartige Unruhe in sich. Was es war, wusste die Detektivin nicht. Es musste aber mit dem Bild zusammenhängen, und sie empfand es wie ein Zwang, die Ikone wieder anzuschauen.
Sie wollte sehen, ob sich dort etwas getan hatte.
Nein, das Gesicht Isidors war normal. Eigentlich ein fein geschnittenes Gesicht, das einem Menschen beim Betrachten Vertrauen einflößen konnte. Die Haare wuchsen lang an den Kopfseiten. Die Augen schienen sich in die Blicke des Betrachters bohren zu wollen. Auch wenn ihr der Vergleich schon komisch vorkam, aber es war tatsächlich so.
Jane schauderte leicht. Dann fasste sie Mut und strich über die Fläche hinweg. Sie berührte das Kinn, die Wangen, auch die Stirn, und sie fühlte sich dabei, als würde sie einen lebendigen Menschen anfassen.
Hier bewegte sich nichts.
Keine Haut, keine Lippen, das Bild blieb, wie es war.
Jane schaute wieder aus dem Fenster. Der Verkehr um sie herum bewegte sich normal.
Erneut blickte sie auf das Bild – und schrak zusammen. Es hatte sich verändert.
Ihr Herz schlug schneller. Der böse Blick traf sie, aber sie hielt ihm stand. Sie wollte sich auf keinen Fall einschüchtern lassen. Stärke zeigen, sich wehren, auch wenn es schwerfiel.
Jane dachte an den Gestank, den sie bereits erlebt hatte. Alte Leichen rochen so, und sie wollte nicht, dass es sich wiederholte. Im Moment war davon noch nichts zu riechen, und dennoch blieb die Ikone nicht mehr normal.
Das Gesicht veränderte sich, und allmählich kam ein anderes zum Vorschein.
Es gab plötzlich keine Lippen mehr. Dafür sah sie jetzt Zähne, blasse Hauer, und auch von der Nase war die Spitze verschwunden. Zwar gab es noch die Haut, aber auch sie hatte sich verändert, sie hatte jetzt einen Stich ins
Weitere Kostenlose Bücher