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172,3 (German Edition)

172,3 (German Edition)

Titel: 172,3 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vincent Voss
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Mach die Augen zu!«
Sie setzte die Flasche mit der durchsichtigen Flüssigkeit an, nahm einen Schluck, beließ ihn im Mund und stellte sich vis-à-vis vor Viktor. Bevor er die Augen schloss, konnte er erkennen, wie sie aus der mit Blut gefüllten Tonschüssel nippte und seine zarte Angst, die ihm eine Bedrohung prophezeite, wuchs statthaft heran. War es der sonderbare Rausch, vor dem er sich fürchtete, dass er ihn in den Wahnsinn trieb? An ein ähnliches Gefühl erinnerte er sich aus seiner Jugendzeit, als er versehentlich mehrere leckere Kekse gegessen hatte, ohne von der Rezeptur gewusst zu haben: Haschplätzchen. Der Abend, die Nacht und auch der folgende Tag waren die bisher furchtbarsten Stunden, die er durchlitten hatte; die Angst, dass es nicht wieder normal wurde. Aber jetzt war es nur teilweise so. Vermutlich nährte sich diese Furcht aus seiner Erinnerung, aber da war auch die Angst vor etwas wirklich Bedrohlichem. Als wenn man alleine im Zoo spazieren ging und feststellen musste, dass das Raubtiergehege, vor dem man sich befand, offen stand. Beate bespuckte ihn. Ein Sprühnebel, der stark nach Nelken und Eisen roch, benetzte sein Gesicht. Viktor schluckte trocken und hörte, wie Beate einen weiteren Mundvoll nahm und das Prozedere wiederholte. Wieder forderte sie verschiedene Dämonen zum Erscheinen auf. Ein Windzug inmitten des Raumes erfasste mehrere Kerzenlichter und erlosch sie. Viktor beherrschte sich, hielt die Augen geschlossen. Beate schien zu verharren.
»Babalú Ayé? Bist du es, der uns beehrt?«

»Chuh-ttie!«
Sie bespuckte Viktors Bauch.
»Ihr Holden? Baal Zebub? Seid ihr in diesem Raum und folgt ihr diesem Mann?«
Beate wartete. Viktor lauschte, ohne zu atmen. Ein weiterer Windzug, stärker und eisig diesmal, der durch den Raum toste und weitere Kerzen erloschen. Etwas zerbarst in der Nähe des Tisches. Hinter Viktor zerplatzte ein Fenster. Viktor riss die Augen auf. Beate stand vor ihm, schüttelte mit aufgeblähten Wangen, eine Kerze vor sich haltend, energisch den Kopf. Viktor spürte eine Flamme auf sich zurasen, Haare fingen Feuer, verbrannten.
»Gehe! GE-HE! Hinfort!«
Eine weitere Flamme umschloss ihn, nachdem Beate ihn über die offene Flamme mit dem brennbaren Gemisch bespuckte. Viktor spürte einen immensen Druck, der sich auf ihn herabsenkte. Seine Glieder wurden schwer, er wurde gestaucht, als würde sich ein schweres Wesen auf ihn setzen. Es lähmte ihn, er stellte seine Atmung ein und ihm wurde schwindelig. Sein linkes Bein knickte weg.
»Hinfort mit dir!«
Zwei Feuerstöße folgten kurz aufeinander. Viktor spürte, wie er kurze Zeit in Flammen stand und dann verschwand der Albdruck. Ein weiterer Luftzug, der sich seinen Weg nach draußen bahnte.
»Viktor?«
Er schwankte, fühlte sich befreit und leer.
»Viktor! Komm zu dir! Es ist noch nicht vorbei«, redete Beate auf ihn ein.
Er öffnete die Augen, blinzelte. Alles kam ihm unwirklich vor – er kam sich unwirklich vor. Beate versuchte ihn im Blick zu behalten, während sie alle Zigaretten und die Überreste der verbrannten Geldscheine zusammen sammelte und in die Ecke zu den aufgeschlagenen Eiern in der Schüssel warf. Mehrere Fliegen stoben auf, kreisten herum, um sich wieder auf den Rand der Schüssel zu setzen.
Viktor schüttelte den Kopf wie ein Boxer, blinzelte und glaubte, sich versehen zu haben. Die Masse aus Eiweiß und Eigelb bewegte sich, schlug Blasen und zirkulierte. Beate eilte an ihm vorbei, holte die Flasche und eine brennende Kerze. Sie hockte sich, von Fliegen umschwirrt, vor den Ritualunrat, stellte Flasche und Kerze neben sich.
»Gehet nun, löset euch auf und fahret hinfort. Lasst ab von dem Mann und von mir!«
Sie nahm einen Schluck und spie ihn über die Kerzenflamme auf die Schüssel. Kurz leckten Flammen empor, züngelten auf der schleimigen Oberfläche. Beate ließ mehrere Spritzer direkt aus der Flasche auf die Eier träufeln und sofort stand das Behältnis in Flammen. Viktor meinte ein Kreischen von weither hören zu können und reckte den Hals, um besser zu beobachten. Gerade hielt Beate die Flasche für einen weiteren Schwung bereit, als Viktor, kurz bevor es eine Verpuffung geben sollte, einen letzten Blick erhaschen konnte. Die Masse aus Eigelb und Eiweiß hatte ein Gesicht geformt – das Gesicht des Homunculus im Garten. Sein Gesicht! Und es kreischte!
*
Beate hatte das geborstene Fenster mit Pappe ausgebessert. Ein alter Radiator und viele Kerzen vermochten ihren Tempel auf eine

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