Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
172,3 (German Edition)

172,3 (German Edition)

Titel: 172,3 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vincent Voss
Vom Netzwerk:
sanft mit dem Strauch über seine Beine. Seine Waden, seine Schienbeine, die Knöchel, seine Oberschenkel. Es fühlte sich an, als hätte der Strauch winzige Dornen, nicht unangenehm im ersten Augenblick, eher belebend, als würde seine Durchblutung angeregt werden. Sie schlug seine Arme, seinen Bauch, seinen Rumpf, seinen Rücken, seinen Nacken, sein Gesicht und während es sich dort noch vitalisierend anfühlte, begann es in seinen Beinen zu brennen. Es erinnerte ihn daran, als er einmal einen Hexenschuss erlitten hatte und sich ein Wärmepflaster auf die Stelle der Schmerzquelle geklebt hatte. Drei Stunden hatte er es mit diesem Pflaster ausgehalten, danach hatte er es mit Tränen in den Augen abgerissen. Unruhig trat er von einem Bein auf das andere, jedoch verstärkten seine Bewegungen den Schmerz.
»Beate, es …«, stöhnte er auf.
»Psst! Jetzt nicht. Du musst dich jetzt stärken«, unterbrach sie ihn und peitschte weiter seinen Oberkörper, der ebenfalls zu jucken und brennen begann. Viktor biss die Zähne zusammen und versuchte, den Schmerz zu ertragen. War ihm eben noch kalt, schwitzte er nun und sein Körper fühlte sich an, als würde er in Flammen stehen. Die Schläge hörten auf. Rauch umhüllte ihn kurz darauf.
»Chuh-ttie!«, hörte er sie sagen.
»Chuh-ttie! Kommt! Kommt!«, beschwor sie, sog an der Zigarette und pustete den Rauch auf Viktor, der benommen von der Wirkung der Schläge mit dem Strauch ein wenig wankte.
»Mehr Geld!«, forderte Beate, aber Viktor reagierte nicht. Der Schmerz hatte nachgelassen und ein leichter, beschwingter Rausch übermannte ihn.
»Mehr Geld, Viktor!«, wiederholte sie und stupste ihn an der Schulter.
Er öffnete die Augen. »Äh … ja, sofort.«
Orientierungslos schritt er auf die Tür zu, besann sich und kehrte zur Bank um. Dort hatte er seine Hose und seinen Mantel abgelegt. In der Innentasche seines Mantels griff er nach seiner Börse, zog sie heraus und fingerte den 50-Euro-Schein hervor.
»Hier«, übergab er ihn Beate, die ihn sofort zusammenrollte, dem Holzmann übergab und ihn anzündete.
»Chuh-ttiee! Incubus, Succubus! Höret und kommet!«, rief sie und wartete gespannt, den Kopf leicht geneigt, die Lippen aufeinander gepresst, die Augen zu Schlitzen verengt. Sie schüttelte den Kopf, bemühte sich, ihre Enttäuschung nicht zu zeigen.
»Orishas! Kommet!«
Wieder wartete sie ab, sah zu Viktor, der durch den Rausch die in der Luft liegende Spannung geballt aufnahm und am ganzen Körper vor Erregung zitterte.
»Es ist zu wenig! Es muss ein Mächtiger sein!« Sie fuhr sich mit der Hand über die Lippen, überlegte und schritt energisch zur Tür. »Ich bin gleich wieder da, Viktor.«
Sie verschwand im Dunkeln. Durch die offen stehende Tür fegte ein kalter Windhauch, der frische Luft hineinwehte und Viktor belebte. Erst dachte er, der fehlende Sauerstoff sei für seinen rauschähnlichen Zustand verantwortlich, aber die Frischluft trug ihn nur in eine andere, neue Dimension seines Rausches. Seine Sinne wurden geschärft und er konnte Details, die ihm vorher entgangen waren, wahrnehmen: Laute, die aus dem Innenhof durch die Tür an sein Ohr drangen. Waren sie zuvor eine Gemengelage an Tönen und Geräuschen, konnte er einzelnen Klängen, sogar Dialogen folgen, die in den höheren Stockwerken geführt wurden. Ein gackerndes Huhn, der Geruch von Schnee, der intensiv den Winter verkündete, die Kälte, die jede seiner Poren schmerzhaft küsste.
Beate kam durch die Tür gestürmt, schloss diese hinter sich und eilte, etwas in ihrem Überwurf verbergend, an ihren Platz. Mit einer Hand griff sie in die Schublade und zog einen Dolch hervor. Mit der anderen hob sie ein Huhn am Hals haltend vor sich. Es zappelte, wehrte sich, schlug seine Krallen in Beates Hand, die den Schmerz ertrug.
»Höret! Der, den ich meine, soll kommen! Der Blutlecker! Komme, du alter Dämon, dessen Namen wir nicht wissen. Zeige dein Gesicht und sag uns, was du willst!«
Mit einem schnellen Schnitt durchtrennte Beate den Hals des Huhns, welches in Todespein umso entschlossener ausschlug und flatterte. Sie hielt das ausblutende Huhn über eine Tonschüssel und ließ den roten Lebenssaft darin hineinfließen.
»Chuh-ttie!«
Viktor standen die Nackenhärchen ab. Drohende Gefahr. Vielleicht sollte Beate jetzt aufhören. Vielleicht wurden Grenzen überschritten, die man besser meiden sollte. Etwas veränderte sich in dem Raum. Er konnte nicht benennen, was es war.
»Beate! Wir sollten …«
»Still!

Weitere Kostenlose Bücher